© 2009 Reiner Wandler

Die Demokratie fängt beim Geld an


Wenn Ricardo Marqués an das Fenster seines Büros tritt, blickt er genau auf das Werk, das ihm in seiner Heimatstadt Sevilla Popularität eingebracht hat: Der Radweg. 80 Kilometer ist das Netz lang. „Unsere Bürgerinitiative ‚Gegenverkehr‘ hat 18 Jahre lang dafür gekämpft. Vergebens.“ Dann kam dem 55-jährige Universitätsprofessor für Elektromagnetismus die Idee, das Projekt 2004 als Antrag beim ersten Bürgerhaushalt vorzustellen. Das Vorhaben bekam die meisten Stimmen. Die Stadt baute für insgesamt 18 Millionen.

Und es hat sich gelohnt. „2004 nutzen gerade einmal 6.000 Menschen täglich das Fahrrad. Ende 2008 waren es bereits 60.000“, weiß Marques. Die 2.500 Leihfahrräder sind fast immer ausgebucht. Neue Räder sollen hinzukommen. 28 weitere Radkilometer sind bereits in Planung. „Der Bürgerhaushalt verändert die Stadt“, zeigt sich Marqués zufrieden.

Sein Konterfei ziert ein Plakat der Stadtverwaltung: „Er hat es geschafft? Und du?“ steht neben dem Foto zu lesen. Das Bürgermeisteramt für Bürgerbeteiligung möchte damit die Menschen zur Teilnahme am Haushaltsprozess gewinnen. „Die Basisdemokratie bei der Geldvergabe ist ein wichtiges Instrument, um die Einwohner von Sevilla an der Kommunalpolitik zu beteiligen“, erklärt die zuständige Bürgermeisterin, Josefa Medrano. Die 53-jährige ehemalige Zigarrendreherin gehört seit ihrer Jugend der Kommunistischen Partei an und war lange in der Gewerkschaftsbewegung aktiv. Jetzt sitzt sie für die „Vereinigte Linke“ (IU) im Stadtrat. Als Juniorpartner der sozialistischen PSOE regiert IU seit 2003 die 700.000 Einwohner zählende Großstadt im Süden Spaniens mit. Der Bürgerhaushalt war eine der Bedingungen der Linken im Koalitionsvertrag. Das Vorbild fanden sie im brasilianischen Puerto Alegre.

Heute ist Sevilla die größte europäische Stadt mit einem Verfahren, in dem die Bürger selbst über einen Großteil der Ausgaben der Stadtverwaltung bestimmen. Knapp 16 Millionen Euro umfasst der Bürgerhaushalt 2009. Alle Distrikte der Stadt stellen zwischen 60 und 75 Prozent ihrer Ausgaben zur Abstimmung. Die verschiedenen Bürgermeisterämter beteiligen sich ebenfalls. Stadtteilfeste, Sanierungsarbeiten, ein Bürgerradio, Integrationsmaßnahmen, Hallenbäder, Sportplätze … all das wurde neben den Radwegen mittels Bürgerhaushalt finanziert.

„Mittlerweile nehmen mehr als 5.000 Menschen am Haushaltsprozess teil“, erklärt Medrano. Verglichen mit den 700.000 Einwohnern sei dies nicht viel, muss sie zugeben. „Doch das sind 5.000 Menschen, die sich intensiv um ihren Stadtteil und um die Stadt kümmern“ und das stimmt die Linkspolitikerin zufrieden.

Die Regeln, nach denen das Verfahren funktioniert, haben die Bürgerversammlungen selbst ausgearbeitet. Einen Antrag stellen kann jeder, auf den Stadtteilversammlungen abstimmen auch. „Was dort entschieden wird, ist verbindlich“, erklärt Medrano. Das gibt es in dieser Größenordnung sonst nirgends in Europa.

Auf den Bürgerversammlungen gewählte Vertreter schauen der Stadtverwaltung bei der Umsetzung des Bürgerhaushaltes auf die Finger. Dieses Komitee hat auch das Recht besonders dringende Projekte vorzuziehen. „Das schafft einen gewissen sozialen Ausgleich“, versichert die Bürgermeisterin.

„Unser Stadtteil hat sich sehr verändert, seit es den Bürgerhaushalt gibt“, sagt Dolores Linares. Die Haushaltsaktivistin der ersten Stunde steht geduldig Schlange, um sich im Bürgerzentrum von Torreblanca für die Haushaltsversammlung einzuschreiben. Das Arbeiterviertel am Ostrand der Stadt war immer ein Ort über den entschieden wurde. Selbstinitiative fand nur in Form von Protesten statt. Gehört wurden sie nur selten. „Jetzt können wir endlich selbst bestimmen, was für uns am Nötigsten ist“, sagt Linares. Die 50-jährige Krankenschwester wird heute einen Antrag zur Restaurierung eines heruntergekommen Parks stellen, und dies in einer Rede vor mehr als 200 Mitbürgern verteidigen.

Das ist nur ein Projekt von vielen. Über rund eine Million Euro stimmt die Bürgerversammlung in Torreblanca an einen Nachmittag ab. Das Stadtteilfest, die Maiprozessionen, Verbesserungen auf dem Schulhof, Workshops im Bürgerzentrum, Aktivitäten für Kinder, Reisen für Rentner … die Liste ist lang.

Etwas ganz besonderes haben sich die drei Frührenter José María, David und Manolo einfallen lassen. Unter dem Namen „Por una Sonrisa“ – „Für ein Lächeln“ haben sie sich als Komikertrio zusammengefunden. Sie tingeln von Bürgerzentrum zu Bürgerzentrum und geben dort ihre Parodien und Sketche zum Besten. Jetzt wo in allen Stadtteilen die Versammlungen des Bürgerhaushaltes abgehalten werden, sind sie auf einer ganz besonderen Tour, die sie auch nach Torreblanca geführt hat. Sie haben einen Antrag: Der Kulturbürgermeister möge aus seinem Etat die freien Theatergruppen der Stadt unterstützen. Die Drei tragen ihr Anliegen in Form einer Chirigota – dem in Südspanien typischen, satirischen Karnevalsgesang – vor: „Dieser Stadtteil verdient ein Lachen, die Sorgen kommen ganz allein. Stimmen Sie zu, und wenn Sie’s nicht machen – Gut! Ok! Soll wohl nicht sein!“

Was bisher geschah: