© 2009 Reiner Wandler

Der Superheld und die Bösewichte

 


José María Fernández Villalta sieht sich gerne als „Superheld“, „so wie Batman oder Supermann“. Und als solcher kämpft er sein ganzes – bisher 43 Jahre altes – Leben gegen die „Bösewichte“ an. Bösewichte sind für ihn „der ständige Kraftaufwand“ und der Anspruch an sich selbst, „ein Leben wie all die anderen zu führen“.

Fernández ist „minusvalido“ – „weniger wert“ – so die wörtliche Übersetzung des Ausdrucks, der im Spanischen üblicherweise für „behindert“ steht. Er litt bei der Geburt unter mangelnder Sauerstoffversorgung. „Schwere Oligophrenie“, lautete das Urteil des Spezialisten. Oder volkstümlicher ausgedrückt: „Spastiker im besonders hohen Grad“. „Ich war für ihn ein hoffnungsloser Fall“, erklärt José Mari, wie ihn seine Freunde nennen, und grinst dabei.

Denn 1988 erhielt er sein Diplom als Soziologe an der Universität Complutense in Madrid. Der unterzeichnende Rektor war eben jener Mann, der ihm einst die Fähigkeit, überhaupt etwas zu erlernen, abgesprochen hatte. „Als ich ihn daraufhin in seinem Büro besuchte und ihm meine Geschichte erzählte, schwieg er nur“, erzählt Fernández und grinst abermals. Zwischen den beiden Szenen liegt ein langer Weg – das Leben eines „Superhelden“ – unterstützt von seinen Eltern, die ihn nie aufgegeben haben. „Und das in einer Zeit, als es keine großartigen Programme in Spanien gab.“

Die eigene Unabhängigkeit war das Ziel, und Fernández hat es erreicht. Der zu 98 Prozent Behinderte geht einem geregelten Arbeitsleben nach. Er ist seit acht Jahren beim Bundesvorstand der spanischen Gewerkschaft, den Arbeiterkommissionen CCOO, für Sozialpolitik zuständig. Dabei kümmert er sich unter anderem um die Programme zur Integration der Behinderten in die Arbeitswelt. Er bewegt sich im Taxi durch Madrid. Jeden morgen kommt „mein Chauffeur“ und holt Fernández im Norden der Hauptstadt ab, um ihn ins Büro im Zentrum zu fahren. Nach- mittags bringt er ihn zurück. Und abends – ob Kino oder einfach auf ein Bierchen mit Freunden – ist der Chauffeur wieder zur Stelle. „Mein Vater zahlte mir einst den Führerschein und wollte mir einen Wagen kaufen. Aber ein Auto in Madrid, das ist doch der reine Wahnsinn“, erklärt Fernández und rechnet dann vor, dass ihm sein Taxileben auch noch billiger kommt.

Zu Mittag sitzt Fernández immer in einer kleinen gemütlichen Kneipe wenige Meter von seiner Wohnung entfernt. Hier kennen ihn alle. Hier ist er José Mari. Wenn er auf seinen Krücken langsam ankommt, öffnen sie ihm freundlich die Tür. Er grüsst, er schwatzt und er lässt es sich schmecken. Beim Kaffee dann beginnt er zu erzählen, langsamer als die so genannten normalen Menschen, doch klar und deutlich und vor allem wortreich. Dem Soziologen gefallen die Vergleiche und die gesellschaftlichen Beobachtungen.

„Superheld zu sein, hat seinen Preis. Es ist so, als ob die Gesellschaft um dich herum irgendwann entscheidet, dass du jetzt unter Beweis gestellt hast, was du alles kannst. Von da an lassen sie dir nichts mehr durchgehen.“ Um zu verdeutlichen, was er meint, erzählt er eine Episode aus seiner Kindheit. „Als ich klein war, wusste ich sehr gut, was ich alles konnte, und was nicht. Eines Tages kam ich auf die Idee zu zeigen, dass ich die ‚Superkraft‘ besaß, ein Glas mit Wasser zu tragen.“ Die Eltern seien begeistert gewesen, „doch von da an bekam ich jedes Mal, wenn ich um Wasser bat, die Antwort: ‚Mach du das. Du kannst das doch‘.“ Das Leben als Superheld begann. „Und ein Superheld muss immer alles richtig machen.“ Der Bösewicht „des Lebens wie all die anderen“ war geboren.

Warum Fernández das alles erzählt? Für ihn ist die Geschichte vom Superhelden die perfekte Parabel auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Stellenwertes der Behinderten in Spanien. Als er 1965 geboren wurde, herrschte die Diktatur Francos. „Die Familien versteckten die Behinderten, als wäre es eine Strafe Gottes“, erzählt Fernández. Wenn überhaupt, gab es Almosen von kirchlichen Institutionen. Spezielle Programme gab es staatlicherseits keine. Nur wenige Eltern fingen dies auf und suchten privat Hilfe, wie im Falle von Fernández. Erst 1983, acht Jahre nach Ende der Diktatur, verabschiedet die junge Demokratie ein Gesetz zur Integration von körperlich und geistig Behinderten. Die Kinder kamen nach und nach nicht mehr auf Sonderschulen, sondern wurden wie alle anderen auch eingeschult.

Spezielles Personal widmet sich seither den besonderen Bedürfnissen der Kinder mit Behinderungen. Fernández traf die neue Politik schon fast an der Universität. „Es waren gute Jahre“, erzählt er. Mit dem Studium kam er schnell voran. „Ich war der zweitbekannteste Student an der Soziologiefakultät“, weiß er zu berichten. Nummer eins war keine geringere als seine Kommilitonin Prinzessin Cristina von Spanien.

Als junger Soziologe nutzte Fernández eine der Nischen, die die neuen Gesetze boten. Er gründete in Zaragoza ein Marketingunternehmen, in dem 70 Prozent „Angestellte mit speziellen Bedürfnissen“ – so die gesetzliche Definition – arbeiteten. Es gab staatliche Zuschüsse. Doch der Verkauf der Dienstleistungen war nicht leicht. Denn nur wenige trauten diesem „Haufen von Behinderten“ über den Weg. Er stieg aus und fand nach einer Reihe kürzerer Anstellungen den Job bei der Gewerkschaft.

„Auf dem Arbeitsmarkt sieht es trotz zahlreicher gesetzlicher Bestimmungen nicht gut aus“, weiß Fernández, der sich tagtäglich um dieses Problem kümmert. Laut der letzten öffentlichen Statistik aus dem Jahr 1999 gibt es in Spanien 3,8 Millionen Behinderte, das sind 8,5 Prozent der Bevölkerung. Gesetze verpflichten Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeiter, mindestens zwei Prozent mit Behinderungen einzustellen. „Aber das wird kaum irgendwo erfüllt“, erklärt Fernández. In einigen Regionen, wie auf den Kanarischen Inseln, unternimmt die Regionalregierung große Anstrengungen, andere wie die Comunidad de Madrid gehen das Problem nur schleppend an. In der Region rund um die Hauptstadt werden die Unternehmen überhaupt erst seit einem Jahr ernsthaft aufgefordert, die Bestimmungen einzuhalten.

Doch statt Unternehmen ab 50 Mitarbeitern anzusprechen, wurde die Mindestbeschäftigtenzahl eigenmächtig auf 500 hoch gesetzt. Die Unternehmen reagieren sehr verhalten, und das obwohl die Behinderten wesentlich weniger verdienen und der Staat meist den halben Lohn sowie die gesamte Sozialversicherung übernimmt. Die meisten Arbeitsplätze finden sich im öffentlichen Dienst. Dort werden fünf Prozent Behinderte eingestellt. Von den zwei Millionen Behinderten im arbeitsfähigen Alter, bewegen sich nur 32 Prozent tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt. 26 Prozent von ihnen sind arbeitslos. Unter der Gesamtbevölkerung sind es 16 Prozent.

Dann kommt José María Fernández auf das grundsätzliche Problem in der spanischen Behindertenpolitik zu sprechen. „Der Grundgedanke ist hier immer die soziale Hilfe“, erklärt er. Im Norden Europas – wo er selbst eine zeitlang in Schweden lebte – und in den USA gehe es viel mehr um die Bürgerrechte. Am besten verdeutliche dies das neue Gesetz der Abhängigkeit. Das Werk aus dem Jahr 2006 sieht eine finanzielle Unterstützung für Betreuung vor. Wer von einem Angehörigen gepflegt wird, bekommt das Geld direkt. Wer auf sonstige Hilfe angewiesen ist, muss einen Sozialdienst in Anspruch nehmen. „Wir können nicht selbst aussuchen, wer uns pflegen soll“, beschwert sich Fernández. Dies sei ein tiefer Einschnitt in die persönlichen Rechte.

José María Fernández beobachtet eine erstaunliche Entwicklung: „Je mehr Gesetze, je weniger gesellschaftliche Unterstützung“, ist er sich sicher. „Scheingleichheit“, nennt er dieses Phänomen. „Ihr wolltet doch immer gleichberechtigt sein, dann seid es auch“, laute die Logik dahinter.

Nach einer kurzen Pause resümiert Fernández: „Die Autonomie und das unabhängige Leben sind ein wertvoller Schatz. Aber manchmal hätte ich es gerne, dass die Leute verstehen, dass ich nicht immer diesen farbigen Anzug des Superhelden aus Willensstärke, persönlichem Glück und Optimismus trage. Dann bin ich ein ganz normaler Mensch, so wie Clark Kent oder Peter Parker. In diesen Augenblicken möchte ich nicht ständig Erklärungen abgeben müssen, warum ich keine Superkräfte habe, warum ich nicht selbst das Wasser hole …“

Fernández trinkt seinen Kaffee aus und bezahlt. Ein Gruß hier, ein Gruß dort. Langsam verlässt er die Kneipe. „Bis morgen José Mari“, ruft ihm der Wirt hinterher. Unser Superheld macht sich auf den Weg nach Hause.

Dieser Text wird Mitte März im Rehatreff erscheinen.

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