© 2008 Reiner Wandler

Abrissbirne gegen Erinnerung

 


Carabanchel ist jedem in Spanien ein Begriff. Der Name eines der Arbeiterstadtteile Madrids, steht für das Untersuchungsgefängnis der dunklen Jahre der spanischen Diktatur schlechthin. „Alle politischen Gefangen kamen nach Carabanchel“, erklärt Victor Díaz-Cardiel. Der 72-jährige Kommunist und Metall-Gewerkschafter saß selbst vier Mal in dem Gefängnis im Südwesten der spanischen Hauptstadt ein. Seit einigen Monaten führt er Wochenende für Wochenende Neugierige durch das verlassene Gebäude mit seinen sternförmig auf einen zentralen Wachposten zulaufenden acht Galerien, das Panoptikum, um Unterstützer gegen den geplanten Abriss zu gewinnen.

Díaz-Cardiel erzählt die Geschichte des alten, leiderfahrenen Gemäuers. Das Gefängnis Carabanchel wurde in den 40er Jahren von Häftlingen errichtet. Zehntausende Gegner Francos machten mit Carabanchel Bekanntschaft. In Madrid befanden sich in den Jahren der Diktatur die Gerichte, die Oppositionelle aburteilten. Nach monatelanger Untersuchungshaft wurden sie dann in andere Landesteile verlegt. Wer auf einer Demonstration oder mit einem Flugblatt aufgegriffen wurde, und die gegen ihn verhängte Geldstrafe nicht zahlen konnte, musste die Buße ebenfalls in Carabanchel absitzen. Und wer gegen das „Gesetz für Faule und Übertäter“ verstieß – wie etwa Homo- und Transsexuelle – kam auch in den Madrider Knast. Außerdem wartete hier so mancher der zum Tode verurteilten auf seine Hinrichtung. Selbst wer von einem Landesteil in den anderen überführt wurde, verbrachte mindestens eine Nacht in Carabanchel. Nach der Amnestie für politische Gefangene 1977, rebellierten die sozialen Gefangenen. Auch sie sahen sich als Opfer der Diktatur. 1998, 23 Jahre nach dem Tod des Diktators wurde die Anstalt geschlossen. Jetzt soll das Gebäude abgerissen werden.

„Das darf nicht sein. Carabanchel steht für die Repression unter Franco wie keine anderes Gefängnis in Spanien. Das Gebäude muss erhalten werden. Wir wollen eine Gedenkstätte“, sagt Díaz-Cardiel auf seiner Führung. Doch die Regierung des Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero, die sich vor einem Jahr mit einem „Gesetz für das historische Gedenken“ die Rückbesinnung auf die dunklen Jahre der Diktatur und der Opfer auf die Fahne geschrieben hat, und in ihrem Wahlprogramm die Gedenkstätte Carabanchel unterstützte, will jetzt nichts mehr davon wissen. Der mögliche Erlös aus dem Verkauf des Grundstückes ist zu verlockend. Die 20 Hektar umfassende Gelände ist das letzte große Grundstück in der Hauptstadt. 70 Millionen Euro verspricht sich das Innenministerium als Spekulationsgewinn.

Die ehemaligen Gefangen genießen eine breite Unterstützung. Allen voran wollen die Anwohnervereine das Gebäude erhalten. Sie fordern ebenfalls eine Gedenkstätte sowie soziale Einrichtungen für den vernachlässigten, überbevölkerten Stadtteil. Auch Architektenverbände unterstützen die Bewegung gegen den Abriss. Carabanchel sei ein herausragendes Beispiel für die Gefängnisarchitektur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und selbst der staatliche Verteidiger der Bürgerrechte, Enrique Múgica Herzog, wandte sich in einem Schreiben an das Innenministerium, mit der Bitte vom Abriss abzusehen. „Es ist notwendig die Erinnerung an unsere Vergangenheit zu wahren, um aus ihr zu lernen für eine bessere Zukunft“, meint der sozialistische Anwalt, der einst selbst in Carabanchel einsaß.
„In anderen spanischen Städten wurden die alten Gefängnis erhalten“, beschwert sich Carmen Ortíz, Anthropologin am staatlichen Hohen Rat für wissenschaftliche Forschungen (CSIC). Die Gebäude wurden neuen Bestimmungen zugeführt. In Oviedo und Avila wurden historische Archive eingerichtet, in Alicante und Valencia Büros der Verwaltung und in Granada ein Kulturzentrum. „Überall wurde etwas unternommen nur hier in Madrid nicht“, sagt Ortíz, für die Carabanchel „das Symbol für die Repression schlechthin“ ist. Als Anthropologin würde sie in den alten Gemäuern gerne ein Museum sehen, dass neben der Diktatur auch dem gewidmet ist, was sie „verschiedene Gefängniskulturen“ nennt. Die politischen Gefangenen organisierten sich weitgehend selbst, hielten Schulungen ab. So mancher der Freigelassenen hatte nach seinem Aufenthalt mehr Kontakte als vor seiner Verhaftung. Und die Gefangenenbewegung, die in den 80er Jahren zu einer Gefängnisreform führte, ging ebenfalls von Carabanchel aus. „Ganz Spanien hat unter Carabanchel gelitten“, erklärt Ortíz. Dann fragt sie: „Können Sie sich vorstellen, dass in Deutschland ein Gestapo- oder Stasiknast Wohnblocks weichen muss?“

Was bisher geschah: