© 2008 Reiner Wandler

Was geschah in Sidi Ifni?

Marokkos König Mohamed VI. macht es sich einfach. Anstatt schwere Vorwürfe gegen die Sondereinsatzkommandos der Polizei aufzuklären, werden diejenigen verfolgt, die die Brutalität bei einem Einsatz in der Atlantikstadt Sidi Ifni öffentlich machten. Seit Dienstag steht der Chef des al-Dschasira Studios in Marokko, Hassan Rachid, und der Verantwortliche des Marokkanischen Zentrums für Menschenrechte (CMDH) in Sidi Ifni, Brahim Sab’alil, vor Gericht. Ihnen wird „die Verbreitung falscher Nachrichten“ vorgeworfen. Sowohl der panarabische Fernsehsender als auch das CMDH berichteten ausführlich über die schwersten sozialen Unruhen der letzten Jahre, als am 7. Juni 3.000 Polizisten Sidi Ifni im Süden Marokkos stürmten. Während al-Dschasira und CMDH von Toten berichten, bestreitet dies das Innenministerium vehement.

Jugendliche hatten tagelang den Fischereihafen in Sidi Ifni blockiert. Sie protestierten damit gegen die unerträgliche soziale Lage in der 22.000 Einwohner-Stadt in der mehr als 50 Prozent arbeitslos sind. Die Polizisten schlugen auf alles ein, was sich bewegte. 48 Verletzte, darunter 28 Polizisten sowie 188 Festnahmen lautete die offizielle Bilanz. al-Dschasira und CMDH berichteten nicht nur von doppelt so vielen Verletzten, sondern auch von bis zu acht Toten.

Ein Blick in die marokkanische Presse zeigt, was die Bevölkerung von Sidi Ifni, das bis 1969 zu Spanien gehörte, erleiden mussten. „Sie drangen mit Gewalt in unser Haus ein, sie stahlen Geld, eine Videokamera, drei Handys, ein Computer“, erzählt eine Frau Namens Naima Boufim auf den Seiten der Wochenzeitzeitung El Michaal. „Danach schlugen sie mich, brachten mich auf die Wache, wo mich ein Offizier seinen Untergebenen befahl, mich völlig auszuziehen und mit meine Armbänder abzunehmen.“ Boufim hatte noch Glück, denn es hätte noch schlimmer kommen können. „Viele Frauen aber auch Männer wurden nicht nur sexuell belästigt sondern auch vergewaltigt“, berichtet Mohamed am Telefon. Seinen Nachnamen möchte er aus Angst vor Verfolgung nicht preis geben. Die Vorsitzende der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH), Souhayr Belhassan, berichtete nach einem Marokkobesuch von „Folterfällen“. Der Polizeieinsatz sei „eine kollektive Strafaktion“ gegen eine ganze Stadt gewesen, heißt es in Bericht einer Delegation von Abgeordneten der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die Sidi Ifni wenige Tage nach den Vorfällen besuchte.

Die Proteste in Sidi Ifni sind die Folge einer völlig gescheiterten Regierungspolitik. Bereits vor drei Jahren kam es in der Atlantikstadt zu Großdemonstrationen gegen die Marginalisierung der von Berbern, einer sprachlichen Minderheit, bewohnten Gegend. Damals handelte die Regierung im Auftrag von König Mohamed VI. einen regionalen Strukturplan aus. Bis heute wurde dieser nicht umgesetzt. Statt den gefangenen Fisch zumindest teilweise in Sidi Ifni zu verarbeiten, wie die Bewohner fordern, wird er nach wie vor auf LKWs verladen und in große Fischfabriken weiter im Norden gebracht.

Die sich häufenden Veröffentlichungen über das Vorgehen der Polizei in Sidi Ifni haben mittlerweile die Regierung dazu gezwungen, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu zulassen. Es ist das erste Mal, dass das marokkanische Parlament einen Polizeieinsatz untersucht. „Wir hatten keine andere Option“, verteidigt Innenminister Chakib Benmoussa das harte Vorgehen der Polizei, die Demonstranten hätten jedwede Verhandlungslösung zur Beendigung der Hafenblockade verweigert. Während eines Besuches der Parlametarier vor Ort Anfang der Woche kam es erneut zu einem harten Einsatz gegen Demonstranten, die auf einer der zentralen Boulevards die Freilassung der noch immer inhaftierten sechs Demonstranten forderten.

„Die Behörden sollten versuchen die Wahrheit über den völlig überzogenen Polizeieinsatz herauszufinden“, fordert die Nordafrika-Sprecherin der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), Sarah Leah Whitson. „Dazu sollten sie eine breite öffentliche Diskussion zulassen, anstatt mit repressiven Gesetze auf diejenigen zu schießen, die die Nachricht überbringen.“

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