© 2008 Reiner Wandler

Staat vs. Kirche?

Seit Monaten macht Spanien Schlagzeilen. „Staat gegen Kirche“, steht da zu lesen. Doch wie so oft sieht die Wahrheit ganz anders aus, wie der Befreiungstheologe Juan José Tamayo zu berichten weiß. Tamayo (62) ist einer der kritischsten Theologen Spaniens. Der Professor an der Universität Carlos III in Getafe bei Madrid legt sich in seinen Werken immer wieder mit der Kirchenhierarchie an. Der Befreiungstheologe wurde von den Kirchenoberen dafür mehrmals zur Ordnung gerufen. Sein erstes Buch, „Für eine Kirche des Volkes“, wurde 1976 wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung beschlagnahmt.

?: Wer heute die Politik in Spanien verfolgt, bei dem entsteht der Eindruck in die 30er-Jahre zurückversetzt zu sein. Die sozialistische Regierung kritisiert die Kirche scharf. Und die Bischöfe gehen auf die Straße und demonstrieren zum Schutz der Familie, gegen Homoehe, und für den Religionsunterricht.

!: Es ist eine untypische Situation, die nur schwer zu verstehen ist. Doch der Eindruck der entstanden ist, ist falsch. Die sozialistische Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero hat in den vergangenen beiden Jahren die Kirche mit Privilegien überschüttet. Die staatlichen Gelder für die Kirche wurden um 44 Millionen Euro aufgestockt, der Religionsunterricht wurde als Pflichtfach mit Benotung festgeschrieben, die Fristenregelung bei der Abtreibung wurde entgegen dem Regierungsprogramm nicht eingeführt. Das gleiche gilt für die Sterbehilfe. Außerdem wurden die Beziehungen zum Vatikan ausgebaut.

?: Wieso dann die scharfe Kritik seitens der Regierung? Und wieso gehen die Bischöfe auf die Straße, obwohl sie eigentlich alles erreicht haben?

!: Das sind alles nur Reden. In Wirklichkeit beugt sich die Regierung Zapatero vor der Kirche und wirft den Bischöfen alles hinterher, was sie verlangen. Die Regierung antwortet auf die Demonstrationen der Kirche mit Reden aber an der Politik der Gefälligkeiten ändert sie nichts.

?: Und die ganzen Reden von der Trennung von Kirche und Staat?

!: Die Entwicklung läuft genau in die entgegengesetzte Richtung. Die Regierung hat nicht einmal versucht, die Verträge mit dem Vatikan, die seit 30 Jahren bestehen, und in einer Situation ausgearbeitet wurden, die mit der Aktualität nichts zu tun hat, zu reformieren. All das ist eine Politik der Angst. Denn die Regierung glaubt, dass die Bischöfe sehr viel Macht und einen großen gesellschaftlichen Einfluss haben und dass deshalb eine Politik gegen die Kirche Stimmen kosten könnte.

?: Warum gehen die Bischöfe dann auf die Straße?

!: Die Bischöfe sind sehr schlau. Sie haben eine perfekte Strategie ausgearbeitet. Sie merken, dass sie innerhalb der Kirche immer weniger Kraft haben. Immer weniger Gläubige gehen zum Gottesdienst, immer weniger Kinder besuchen den Katechese, immer weniger Eltern taufen ihre Kinder, immer weniger Paare lassen sich trauen. Um diesen schwindenden Einfluss wett zu machen, suchen die Bischöfe ihren Platz außerhalb der Kirche. Sie rufen zu Großdemonstrationen auf, um so der Gesellschaft und der Regierung zu zeigen, dass die Kirche nicht in der Krise steckt.

?: Erreichen sie damit nicht genau das Gegenteil? Die Demonstrationen stehen für eine traditionelle, orthodoxe Kirche. Das schreckt doch viele Gläubige erst recht ab.

!: Das ist der Kirchenhierarchie egal. Sie macht sich weniger Sorgen über die interne Krise als über den schwindenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss. Die Bischöfe wollen um jeden Preis den Eindruck von Macht aufrechterhalten. Und wenn es dazu nötig ist das orthodoxe, unsympathische Gesicht zu zeigen, dann machen sie das eben. Sie wissen, das die Regierung vor diesem Gesicht zurückschreckt und ihre Forderungen erfüllt. Unter der aktuellen Regierung hat die Kirche mehr Fähigkeit bewiesen sich politisch zu artikulieren, als je zuvor in der Demokratie.

?: Wie sieht die Zukunft dieser Kirche in einer immer offeneren Gesellschaft aus?

!: Diese Kirche hat keine Zukunft. Sie trauert der Vergangenheit nach. Die Kirchenhierarchie versucht ihren Einfluss, den sie in der Vergangenheit hatte, weiterzuführen. Sie gibt Antworten der Vergangenheit auf Fragen von heute. Eine Kirche, die keinerlei Sensibilität für die aktuellen Probleme zeigt, gehört ins Museum und wird auch dort enden. Ihre Anhängerschaft wird sich immer mehr auf eine kleine Gruppe von Nostalgikern beschränken.

?: Dann bräuchte die Regierung doch einfach nur abwarten, bis sich diese Kirche, die den Zeiten der Diktatur nachhängt, selbst ruiniert, anstatt ständig auf deren Forderungen einzugehen.

!: Das ist eines der großen Probleme Spaniens. Seit dem Übergang zur Demokratie haben alle Parteien die Kirche argwöhnisch beobachtet. Sie waren immer besorgt, die Bischöfe könnten sie kritisieren. Alle Regierungen haben die Forderungen der Kirche erfüllt, weil sie glaubten, die Kirche habe große Macht. Und ein Streit mit der Kirche könnte katholische Wählerstimmen kosten.

?: Die Politiker haben also mehr Angst vor der Kirche als die Gesellschaft?

!: Nicht nur mehr Angst, sondern sie hören auch mehr auf die Kirche als die Gesellschaft. Nur noch wenige Katholiken halten sich an die kirchliche Moral. Die Scheidung ist Sünde, dennoch kommt es zu Zehntausenden von Scheidungen jährlich. Die Abtreibung ist Sünde, dennoch kommt es jährlich zu 100.000 Schwangerschaftsabbrüche. Die wilde Ehe und der voreheliche Sex sind Sünde, dennoch hält sich kaum noch jemand daran. All das zeigt: Die Politiker schenken den Parolen der Kirche mehr Beachtung als die Gläubigen.

Was bisher geschah: