© 2008 Reiner Wandler

Feuer und Eis


Island, das sind blumenübersäte Tundra-Landschaften, Schneefelder im Hochsommer, riesige Gletscher, Berghänge in allen Farben, Dampf- und Rauchsäulen – und über allem Schwefelgeruch. Wer die Natur der Insel im Nordatlantik in kürzester Zeit auf engstem Raum erleben will, dem sei der Laugavegur empfohlen. Nein, nicht die Haupteinkaufsstraße von Reykjavík, sondern der gleichnamige, aber viel einsamere Fernwanderweg im Süden des Landes. 54 Kilometer, verteilt auf vier Tage, führen durch die gesamte Vielfalt Islands. Neben dem Inka-Pfad in Südamerika und dem Milford-Trek in Neuseeland gehört die Wanderung von Thorsmörk nach Landmannavegur zu den schönsten der Welt.

Der Rucksack ist schnell gepackt und doch schwer: ein Schlafsack, Regenklamotten, Warmes für alle Fälle und Essen für vier Tage, denn unterwegs gibt es nichts. Dann geht es mit dem Linienbus von Reykjavík nach Thorsmörk. Schon bald verlassen wir die gut ausgebaute Ringstraße entlang der Küste. Vor uns liegen die Highlands. Asphalt ist hier ein Fremdwort. Schlaglöcher schütteln uns durch. Bald tauchen die ersten Gletscherzungen auf. Der Allradbus fährt immer wieder durch reißende Gebirgsbäche. Einer ist so groß und so breit, dass es selbst unserem erfahrenen Isländer am Steuer mulmig wird.

„Aussteigen, ich versuche es erst mal ohne Passagiere“, erklärt er. Er zwingt den ächzenden und schwankenden Bus in die Fluten. Die Wellen türmen sich an der Seitenwand auf und versetzen das schwere Fahrzeug um ein paar Meter. Doch der Fahrer schafft es und kommt wie versprochen zurück. „Alle an Bord“, und das Ganze wird wiederholt.

Um 12.30 Uhr sind wir in Thorsmörk. Es nieselt. Wie könnte es auch anders sein? Vor uns liegen knapp sechs Stunden Weg in Regenjacke und Regenhose. Die Strecke ist gut ausgeschildert und bequem zu gehen. Mit einer Ausnahme: Ein Seitenarm des Flusses, den wir schon vom Busfenster aus kennen, liegt vor uns. Schuhe und Hosen aus! Latschen an! Es geht durch die Fluten, die bis an die Oberschenkel reichen. Das Wasser hat Kraft. Vorsicht ist geboten, um nicht baden zu gehen. Wenn das schon so losgeht, was erwartet uns dann noch alles? Einmal drüben, erkundigen wir uns bei entgegenkommenden Wanderern. Es ist wohl die schwierigste Furt, meinen sie. Für heute gibt es keine Bäche mehr zu durchwaten. Alle weiteren auf der Tagesetappe sind so wild, dass selbst die Isländer Fußgängerbrücken gebaut haben. Durch Tundra geht es sanft hinauf zur Emstrur-Hütte, am Rande einer bizarren Hügellandschaft in Ocker und Schwarz.

Wir fragen die Hüttenwartin nach dem Wetter für den nächsten Tag. „Gut, so wie heute auch“, erklärt sie uns. „Das bisschen Regen es war doch ein toller Tag“, animiert sie uns zum „Umdenken“. Island sei halt anders als der Kontinent. Doch zum Glück gibt es auch hier im Norden nicht nur „gut“, sondern auch „besser“. Wir wachen bei Sonnenschein und strahlend blauen Himmel auf. Langsam geht es auf einen Bergrücken hinauf. Wir durchqueren eine wellige Landschaft, und plötzlich liegt vor uns eine riesige schwarze Fläche aus Vulkansand und Asche. Weiter hinten schieben sich Gletscherzungen den Hang hinab. Der Kontrast ist überwältigend. Vegetation ist fortan ein Fremdwort. Ein paar Flechten, etwas Gras entlang eines Flusses, das ist alles, bis wir auf die andere Seite der schwarzen Ebene gelangen. Es ist heiß, wir geraten ins Schwitzen – ein seltenes Gefühl in Island.

Nach zwei Flussüberquerungen und einen kurzen Aufstieg erleben wir abermals eine Überraschung. Vor uns liegt die Hütte am Ufer des Alftavatn, eines tiefblauen Sees, in dem sich die gletscherbedeckten Berge spiegeln. Der Blick nach Norden macht neugierig auf den nächsten Tag. Aus ockergelben Bergrücken steigen Rauchsäulen auf. Für den nächsten Tag meldet der Wetterbericht weder „gut“ noch „besser“, sondern „noch besser“. Wir staunen, doch er behält recht. Auch das letzte Wölkchen ist verschwunden. Es wird die schönste und härteste Etappe unseres Marsches.

Was für zwei Tage vorgesehen ist, wollen – oder besser gesagt: müssen – wir in einem Tag schaffen. Denn die Hrafntinnusker-Hütte auf halbem Weg ist ausgebucht, und ein Zelt wollten wir nicht mitschleppen. So liegen vor uns 24 Kilometer am Stück.
„Feuer und Eis“ könnte der Titel dieses langen Tages sein. Über Steilhänge geht es hinauf in von kleinen Klammen und Schluchten durchzogenes Hochland auf knapp 1.000 Meter. Aus dem lehmig-sandigen Boden steigen Rauch und Dampf auf und sprudelt kochend heißes Wasser. Manche Löcher im Boden geben ein tiefes Brummen und Gurgeln von sich, als ginge es direkt hinab in die Hölle. Selbst auf dem Gletscher und auf Schneefeldern dampft es.

Wir erreichen die Hrafntinnusker-Hütte. Vom dahinterliegenden Pass, der schnell überwunden ist, bietet sich uns eine überwältigende Aussicht. Islands aktivster Vulkan Hekla ist zu sehen, und in der entgegengesetzten Richtung liegt der größte Gletscher, der Vatnajökull, dessen Eismasse mächtiger ist als alle anderen europäischen Gletscher zusammengenommen.
Die Gegend, durch die wir hinabgehen, ist ebenfalls von vulkanischer Aktivität geprägt. Allerorten zischt und dampft es. Die Beine werden immer schwerer durch das Hoch und Runter in der Schluchtenlandschaft. Es ist fast windstill, die Sonne scheint, das Wetter ist stabil. Dennoch beeilen wir uns. Denn einen Wetterwechsel wollen wir hier nicht erleben. In den letzten drei Jahren starben zwei junge Wanderer. Sie überwältigte ein Schneesturm mitten im Sommer.

Schwarze Lavafelder unterbrechen die Ocker-Landschaft. Der Boden ist so heiß, dass es selbst aus den Löchern, die die Wanderstöcke hinterlassen, dampft. Endlich wird es flacher. Die letzten Meter führen uns vorbei an Löchern und Rissen, die durch Erdbeben entstanden sind.
Endlich erreichen wir Landmannalaugur und damit die letzte Hütte. Der Bus zurück nach Reykjavík geht erst am nächsten Nachmittag. Willkommene Freizeit, die wir nutzen, um uns im warmen Wasser eines Naturbeckens zu erholen. Island, wie es im Reiseführer steht!


Was bisher geschah: