© 2007 Reiner Wandler

Chueca, der etwas andere Stadtteil

Wer bei Julian in der Kneipe sitzt, der kommt fast zwangsläufig auf die jüngste spanische Geschichte zu sprechen. „Libertad 8“, Freiheit 8, heißt das Café. „Straßenname und Hausnummer, aber auch Programm“, sagt Julian.
1976, wenige Monate nach dem Tod von Diktator Francisco Franco, öffnete das Lokal. Alles, was aus der Kabarettistenszene, unter den Liedermachern oder in der Linken Rang und Namen hatte, ist hier aufgetreten oder hat hier sein Bier geschlürft. „Ein Platz für Querdenker eben bis heute“, sagt Julian.

An der Wand hängen Plakate, die die nächsten Auftritte und Lesungen ankündigen, daneben ein Poster, das einfach „Eine bessere Welt ist möglich“ feststellt.
Den Thekenraum schmückt das Porträt von Konstantino Kavafis, Lieblingsdichter der spanischen Boheme der 70er- und 80er-Jahre. Mit seinen Gedichten innerer und äußerer Reisen machte er vielen Lust auf die Welt dort außerhalb Spaniens und seiner engen Moral. „Verloren in den Tavernen und Bordellen von Beirut lebe ich das schlechte Leben.“ Steht unter dem Gemälde. Ein Satz wie ein Programm für die Nächte Madrids.
„Hier im Stadtteil Chueca begann das, was die Movida genannt wurde“, erzählt Julian. Kneipen, die die ganze Nacht offen hatten, schräge Gestalten beim Joint und beim Bier mit spanischer Neuer Welle im Hintergrund. Libertad, Freiheit eben.
Alle waren sie Künstler, alle hatten sie den Traum vom großen Projekt. Einige wie der Filmemacher Pedro Almodóvar oder die Musikerin Alaska verwirklichten ihn, andere verglühten. Und mit ihnen der Stadtteil.
In den späten 80er-Jahren ging es bergab. Das Heroin bemächtigte sich eines Teiles der Jugend und der Straßen und Plätze von Chueca. „Viele Lokale schlossen, wir hielten aus“, erzählt Julian.
Es hat sich gelohnt. Heute ist Chueca wieder in. Keine Kneipe, kein Geschäft, keine Wohnung steht mehr leer. „Den Wandel haben wir der Schwulenszene zu verdanken“, meint Julian, dessen Libertad 8 fast schon eine Heteroinsel im neuen, regenbogenfarbenen Straßenbild ist.
Alles ist auf das neue Publikum ausgerichtet, das seit Anfang der 90er-Jahre das heruntergekommene Quartier wieder aufrichtete. Das Coming-out eines ganzes Viertels ist eng verbunden mit der Demokratisierung Spaniens und den damit einhergehenden liberaleren Moralvorstellungen. Denn die Schwulen gab es auch schon im verruchten Chueca der Movida und im dunklen Chueca der Drogen. Versteckt in schmuddeligen Clubs mit dunklen Hinterzimmern, in denen der schnelle, anonyme Sex vor allem die Ausbreitung von Aids begünstigte.
Jetzt, wo sich auch im Machoparadies Spanien immer mehr Gays offen zu ihrer anderen Sexualität bekennen, blüht das neue Chueca. Große Schaufenster, helle Cafés, keiner versteckt sich mehr, wenn er seinen Lover küsst oder verliebt anschaut.
Und wer den besonderen Kick sucht, der geht in Clubs wie das „Into The Tank“ in der Calle Calatrava, wo für Insider „thematische Sexfeste“ geboten werden. Achtung, es besteht eine Kleiderordnung! Die Tür öffnet sich nur dem, der in sportlichem Outfit, im Militäry-Look oder in Gummiklamotten auftaucht.
„Vorsicht, Sie verlassen den heterosexuellen Sektor“ steht an viele Eingängen des Viertels gesprüht, das jedes Jahr den rauschendsten Christopher Street Day Spaniens bietet. Nicht zur Abschreckung, sondern zur eigenen Bestätigung.
Auch Heteros sind hier gern gesehen. An Wochenenden kommen sie in Scharen. Nirgends in Madrid vermischt sich das Traditionelle mit dem Gestylten, Modernen so sehr wie hier.
Wer die Calle Libertad hinunterschlendert, hat auf wenigen Metern die Auswahl zwischen neuer spanischer Küche, einem Spiel der Geschmäcker für Leute mit kleinem Hunger, traditioneller Hausmannskost verschiedener spanischer Regionen und lateinamerikanischer Küche.
Auf der Plaza Chueca, gleich am U-Bahn-Ausgang, laden Terrassen zum Sitzen. Wer es gerne typisch madrilenisch mag, der geht auf der Stirnseite in „La Antiqua Casa Angel Sierra“, eine klassische Bodega, zum genüsslichen Schlürfen eines Weins oder Wermuts. Hier wird der wohl populärste Aperitif der spanischen Hauptstadt vom Fass gezapft. Außer dem Namen hat das Getränk mit dem, was sonst in Europa Wermut heißt, denn auch wenig gemein.
Wer das Moderne bevorzugt, wird sich sicher im „Mama Ines“ in der Calle Hortaleza 22 mit seinen schrillen Comedyprogrammen „aus der Unterwelt Chuecas“ recht wohl fühlen.
Auch wer die etwas besondere Mode oder das Design sucht, kommt nach Chueca. Schuhe, Klamotten und dutzende von kleinen Läden mit Schönem für den, der schon alles hat, aber trotzdem immer auf der Suche ist, ziehen auch tagsüber das Publikum an.
Viele derer, die einst in Chueca nur das Nachtleben genossen, haben sich heute hier niedergelassen. Buchläden für Schwules und Schönes, Videotheken, Kraftstudios, der etwas andere Friseur, das nette Pärchen mit seinem Gemüseladen, sie alle versorgen die neue Bevölkerung. Ganz normales Stadtteilleben, nur eben homosexuell.
Die Wohnidylle wäre perfekt, wäre da nicht ein kleines Problem. Das Nachtleben, das sie hervorgebracht hat, ist auch weiterhin laut und schrill, der Schlaf vor allem am Wochenende gefährdet. Viele derer, die vor Jahren unten in der Disko oder Kneipe ihren Lover und späteren Mann fürs Lebens fanden, protestieren jetzt. „Durch Lärm kontaminierte Zone“ steht auf den Plakaten, mit denen sie die Einschränkung ihrer eigenen Subkultur fordern.

Was bisher geschah: