© 2017 Reiner Wandler

Frust? Dafür ist keine Zeit.

Da stand dieser Berg von Mann und es kamen nur Tränen. Die Stimme versagte. Jordi Lleal umarmte die Umstehenden. Freitag der 27. Oktober, 15:27 Uhr – das wird der weißhaarige, hochaufgewachsene Alte nie vergessen. Das katalanische Parlament hatte soeben die Unabhängigkeit erklärt. „Das ich das noch erleben darf“, sagt Lleal.

Der pensionierte 74-jährige Architekt trägt, wie viele der Tausenden, die sich vor dem Gebäude der Volksvertretung in Barcelona versammelt haben, eine Unabhängigkeitsfahne um die Schulter. Ein Hut schützt ihn gegen die Sonne. Seit morgens hat er ausgehalten, Radio gehört, mit gezittert, den Parlamentariern zugejubelt, die zur Plenarsitzung eilten, und den über 200 Bürgermeistern applaudiert, die eigens zum historischen Tag aus ganz Katalonien angereist waren.

Jodi Lleal ist Mitglied im Vorstand von Òmnium in Barcelona-Nord, einer der bevölkerungsreichsten Regionen Kataloniens. Òmnium ist eine der beiden wichtigsten Organisationen der Unabhängigkeitsbewegung. Seit sieben Jahren bringen sie Jahr für Jahr am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, rund eine Millionen Menschen auf die Straße. Lleal hat immer mit organisiert, ebenso wie beim trotz Madrider Verbot abgehaltenen Unabhängigkeitsreferendum am vergangenen 1. Oktober.

Vom Parlament ging es zum Plaça Sant Jaume vor das Gebäude der Autonomieregierung Generalitat. Bis in die frühen Morgenstunden spielte Bands, die Leute tanzten und verlangten immer wieder in Sprechchören, dass die spanische Fahne, die noch immer neben der katalanischen auf dem Gebäude weht, entfernt würde. Nur es war keiner mehr da, um diesem Wunsch nachzukommen.

Polizeihubschrauber kreisten bis in die frühen Morgenstunden über einer Stadt, die bis auf das Fest vor der Generalitat ihr normales Freitagnachleben führte, als wäre nicht geschehen.

Lleal war da längst zu Hause in der Vorstadt Badalona. „Im Fernsehen die Reaktionen aus Madrid abwarten“, entschuldigt er sein Fehlen. Kurz nach 20 Uhr setzte der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy mit Hilfe des Verfassungsartikel 155 die katalanische Regierung ab, übernahm die Verwaltung, löste das Parlament auf und rief zu katalanischen Neuwahlen für den 21. Dezember. „Diese Wahlen bieten keinerlei Garantien“, schimpft Lleal.

Dutzende von TV-Teams warteten am Samstag den ganzen Tag auf neue Menschenaufläufe auf der Plaça Sant Jaume. Vergebens. Die Schachpartie um Katalonien hat sich verlangsamt. Parteien und Organisationen wie Òmnium berieten, wie mit der neuen Situation umzugehen sei. Nur ein winzig kleines Details ist anders als sonst. Die Beamten der Mossos d‘Esquadra, die seit den Anschlag von Barcelona im August überall das Straßenbild bestimmen, standen zusammen debattierten aufgeregt aber leise. Ihr Chef war in den frühen Morgenstunden des Samstags von Madrid des Amtes durch einen neuen ersetzt worden. Es herrschte wohl Klärungsbedarf.

Lleal Der Alte ist von klein auf für die Unabhängigkeit. „Seit jenem Tag als ein Franco-Faschist meinen Vater mit der Pistole bedrohte und als ‚katalanischen Hund‘ beschimpfte, weil er nicht Spanisch sprechen wollte“, erzählt er. „In Madrid regieren immer noch die gleichen, nur mit anderem Hemd“, begründet Lleal, warum er nie aufhörte von einer Republik Katalonien zu träumen.

Von seiner Partei der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) wünscht er sich jetzt einen Boykott der Wahlen, zu denen Madrid ruft. Die ERC ist die ältesten der drei Parteien, die für die Unabhängigkeit stimmten. Bereits 1934, ebenfalls an einem Oktobertag hatte der damalige ERC-Politiker und Chef der katalanischen Regierung Generalitat, Lluis Companys, die Republik Katalonien ausgerufen. Truppen aus Madrid nahmen ihn fest, später floh er nach Frankreich, wurde von der Gestapo an Diktator Francisco Franco ausgeliefert und hingerichtet.

Dem jetzigen „President“, Carles Puigdemont, droht ein Verfahren wegen „Rebellion“ und damit bis zu 30 Jahre Haft. Im Fernsehen spekulieren sie, ob Puigdemont kommende Woche verhaftet wird. „Das Glaube ich nicht, denn dann wird die Lage richtig explosiv“, ist sich Lleal sicher.

Frust angesichts der Intervention Madrids? Dafür sei auch jetzt keine Zeit. Nun gehe es darum „den zivilen, friedlichen Ungehorsam gegen die Übernahme aus Madrid vorzubereiten“. Angst? Nein, Angst habe er keine. „Gandhi, Rosa Parks, die haben auch die Angst verloren und die Mächtigen zogen schließlich den Kürzeren“, ist er sich sicher, dass der Ungehorsam der Weg ist.

Doch auch er weiß, die Lage ist angespannt. Während die Verfechter der Unabhängigkeit ausgelassen fierten, zogen mehrere Hundert rechtsradikale mit spanischen Fahnen durch Barcelona. Sie begrüßten die Beamten der spanische Nationalpolizei mit Handschlag und griffen unter deren Augen das Gebäude des öffentlichen Rundfunks Catalunya Radio an. Es kam zu mindestens drei Verletzten.

Was bisher geschah: