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Catalunya independent

Genau um 15:27 Uhr lag das Ergebnis vor. Die Mehrheit des katalanischen Parlaments stimmte einem Antrag zu, den katalanischen Regierungschefs Carles Puigdemont zu beauftragen, „alle notwendigen Resolutionen zu erlassen, um das Gesetz des juristischen und funktionalen Übergangs der Republik umzusetzen.“ Im Vorwort der Resolution der Fraktion des Wahlbündnisses „Gemeinsam für dass Ja“ (JxSí) und der antikapitalistischen Kandidatur der Volkseinheit (CUP) steht, was dies genau bedeutet: „Wir machen den Auftrag des Volkes von Katalonien, der im Referendum zur Selbstbestimmung am 1. Oktober zum Ausdruck gebracht wurde, zu eigen, und erklären, dass Katalonien sich zu einem unabhängigen Staat in Form einer Republik wandelt.“ Die Befürworter der Unabhängigkeit stimmten zur Feier des Tages die katalanische Nationalhymne an.

Bei dem vom Verfassungsgericht für illegal erklärten Referendum am 1. Oktober, auf das sich die Resolution beruft, hatten etwa 90 Prozent für die Unabhängigkeit der wirtschaftsstarken Region gestimmt. Es beteiligten sich allerdings nur 43 Prozent der Wahlberechtigten. Das Gesetzt zum Übergang, auf das sich die Resolution bezieht wurde ebenfalls für ungültig erklärt.

Die Resolution erhielt 70 Ja-Stimmen, zehn Nein-Stimmen. Zwei gaben einen leeren Stimmzettel ab. JxSí und die CUP verfügen zusammen über 72 Stimmen. Bis auf die Abgeordneten der Liste „Ja, Katalonien kann“ (CSQP) hatten alle Oppositionsparteien – die rechtsliberalen Ciudadanos, die sozialistische PSC und die in Madrid regierende Partido Popular (PP) – den Plenarsaal aus Protest verlassen, bevor die Befürworter der Unabhängigkeit damit auch den letzten Schritt zur Eigenständigkeit einleiteten.

„Die letzten beiden Tagen waren wir eine Achterbahnfahrt“, erklärt Nil Rider. Der 24-jährige Geschichtslehrer ist den zweiten Tag in Folge auf der Straße. Erst besorgt, dann verstört, schließlich verärgert, dann wieder voller Hoffnung. Und jetzt feiert er nur noch, sein „Freies Katalonien“, überglücklich vor dem katalanischen Parlament in Barcelona.

Dass es soweit kommen würde, daran hatte Rider, der der antikapitalistischen CUP und damit den radikalsten Verfechter der katalanischen Republik nahesteht, vor nur 24 Stunden nicht mehr geglaubt. Denn am Donnerstag um die Mittagszeit wurde bekannt, dass Puigdemont mit dem Gedanken spielte statt der Unabhängigkeit Neuwahlen auszurufen. Rider war unter denen, die vor dem Regierungspalast auf der Plaça Sant Jaume im Herzen Barcelonas enttäuscht demonstrierten. „Verräter“, riefen sie und meinten damit den Mann, der bis zu diesem Zeitpunkt so etwas wie ein Vater für die Unabhängigkeitsbewegung war, weil „er Katalonien dahin gebracht hat“, wo es nie war – auf die Schwelle zur Unabhängigkeit.

Zweimal sagte der „President de la Generalitat“, so Puigdemont Titel eine öffentliche Erklärung ab, bis er dann um Donnerstagnachmittag um 17 Uhr endlich vor die Kameras trat. Und alles nahm erneut einen Dreh um 180 Grad. Puigdemont erklärte, er habe sehr wohl die Einberufung von Neuwahlen in Erwägung gezogen, doch von der Regierung in Madrid unter dem Konservativen, Mariano Rajoy, „keinerlei Garantien erhalten“. Puigdemont hatte verlangt, dass die spanische Regierung keine Zwangsmaßnahmen gegen die katalanische Autonomie ergreife.

Doch das Telefon im Palast der Generalitat schwieg. Rajoys Partido Popular (PP) machte in Madrid weiter wie gehabt. Die zweite Kammer des spanischen Parlaments beriet über die Anwendung des Verfassungsartikels 155 und damit über die Aussetzung der Katalanischen Autonomie, der Amtsenthebung der Regierung Puigdemont und der Verwaltung der nordostspanischen Region direkt durch die Ministerien in Madrid. Finanzen, Bildung, Polizei und öffentlicher Funk und Fernsehen inbegriffen. „Es gibt keine Alternative. Das einzige, was man tun kann, ist zum Gesetz zugreifen, um zu erreichen, dass das Gesetz respektiert wird“, forderte Ministerpräsident Rajoy den Senat auf, für den 155 zu stimmen. Am Samstag werden die Maßnahmen im Amtsblatt veröffentlicht und dann umgesetzt.

Im Parlament hatten sich neben den Abgeordneten über 200 der insgesamt 942 katalanischen Bürgermeister versammelt. Ihren Amtsstab in der Hand skandierten sie „Unabhängigkeit“. Draussen sang die Menge: „Wenn wir stark dran ziehen, werden wir es zu Fall bringen. Es kann nicht mehr lange dauern. Ganz sicher: Es fällt, es fällt, es fällt …“, sangen die Menschen vor dem Parlament immer wieder. Es ist das Lied des katalanischen Protestsängers Lluis Llach aus den letzten Jahren der Franco-Diktatur. Llach sass mit unter den Abgeordneten von Puigdemonts Bündnis „Gemeinsam für das Ja“ (JxSí) und stimmte stolz für die Unabhängigkeit.

Bernardo Ramón López ist einer von denen, die am Freitag den Bildschirm keinen Moment aus den Augen ließen. „Eine Katastrophe. Jetzt wird der Staat mit voller Wucht den 155 umsetzen“, ist er sich der 63-jährige Postbote im Ruhestand sicher. Am Donnerstag noch, war er den ganzen Tag ruhelos durch Barcelona gestreift, beobachte die Demonstrationen und verfolgte das politische Hin und her. „Keiner kann sich ausserhalb des Gesetzes stellen. Wäre das Referendum am 1. Oktober legal gewesen, hätte ich abgestimmt. Mit Nein, aber abgestimmt“, sagt der Mann, der mit 18 aus dem zentralspanischen Avila nach Barcelona kam. Aber dass jetzt Zwangsmaßnahmen eingeleitet werden, das unterstützt er auch nicht. „Das wird ein ganzes Volk verarmen lassen“, meint er sichtlich besorgt. „Das hier ist nach so vielen Jahren meine Heimat. Meine Frau ist Katalanin und meine Kinder auch“, sagt er. Für López ist alles, was in den letzten Wochen passiert ist, der Unfähigkeit der Politik zuzuschreiben. „Ich meine damit Puigdemont und Rajoy“, sagt er und spricht von „Angst vor der Zukunft“.

Auch Rider ist besorgt angesichts dessen was jetzt mit dem 155 kommen kann. Er spricht von passivem Widerstand und befürchtet eine Welle der Repression. „Wir müssen stark sein und zu unserer Überzeugung stehen. Wir haben uns niemals in Spanien wohlgefühlt“, sagt er dann. Und die Unabhängigkeit ist für ihn genau das: „Gefühl“. Und vom jetzt ausgerufenen Konstituierenden Prozess verspricht er sich „einen totalen Neuanfang“. Er träumt von einer gerechteren, demokratischeren und weniger korrupten Gesellschaft./Foto: Bagueleta

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