© 2017 Reiner Wandler

Polizeigewalt gegen Volkes Stimme

 

„Bam, bam, bam … sie haben auf alles eingeschlagen, auf alte Leute, junge Leute, Frauen …“, sagt Miguel Vinaber. Der 73-jährige Rentner ist noch immer geschockt. Er ist seit 7 Uhr in der früh in der Schule Mediterrània im alten Fischerviertel Barceloneta in der katalanischen Hauptstadt Barcelona. „Punkt 9 Uhr, als das Wahllokal öffnete, fuhren rund 20 Mannschaftswagen vor“, sagt Vinaber, der mit seiner 48-jährigen Tochter Araceli gekommen ist, um am Referendum für die Unabhängigkeit Kataloniens teilzunehmen. Die Polizei wollte genau diese Abstimmung verhindern, denn das Verfassungsgericht in Madrid hat das Referendum auf Drängen der Zentralregierung des konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy verboten. Der Chef der Partido Popular (PP) verkündet seither, alles zu tun, um das Referendum zu verhindern. „Es war wie zu Zeiten der Franco-Diktatur“, sagt der Alte. Er kann es einfach nicht glauben. Alles sei so friedlich gewesen.

Dolores Hernández steht dabei und zückt ihr Handy. Sie zeigt ein Video nach dem anderen. Die Beamten drängeln, knüppeln, treten, bis sie schlussendlich in die Schule eindringen können. Dort beschlagnahmen sie 4 der insgesamt 6 Urnen. Die restlichen beiden konnten von den Wahlhelfern rechtzeitig versteckt werden.

Die 55-jährige Hausfrau, die ein T-Shirt in den katalanischen Nationalfarben Rot-Gelb trägt hat rund ein Dutzend Videos gesammelt. Es sind Schulen überall im Stadtgebiet. Und auch in anderen katalanischen Städte, wie Tarragona und Girona kam es zu heftigen Polizeieinsätzen. Mancherorts wurden sogar Gummigeschosse angewandt. Und das obwohl dies in Katalonien seit 2014 verboten ist, nachdem eine junge Frau bei einer Demonstration ein Auge verlor.

„Mich haben sie in den Würgegriff genommen. Meinem Mann auf den Kopf geschlagen, als er einem gestürzten Mann aufhelfen wollte“, sagt Hernández und zeigt das entsprechende Video dazu. Andere Umstehende haben Fotos: Ein Mann mit blutüberströmtem T-Shirt, eine ältere Dame, die von der Polizei weggeschleppt wird, eine andere mit eine Platzwunde am Kopf. Mindestens vier Menschen mussten hier in der Schule Mediterrània zur Behandlung ins Krankenhaus. In ganz Katalonien waren es bei Redaktionsschluss laut Autonomieregierung 465 Personen, darunter ein Schwerverletzter.

„Die stürmten, als ständen sie unter Drogen“, erklärt Tochter Vinaber. Die 48-jährige Sekretärin berichtet, wie die Autonomiepolizei versuchte sich zwischen Wähler und spanische Nationalpolizei zu stellen und dabei selbst Knüppel abbekommen hat. Vinaber hat bereits im Vorfeld per Briefwahl gewählt. Sie lebt in Hamburg und arbeitet dort seit zehn Jahren als Sekretärin. Auf Heimaturlaub hat sie ihren Vater begleitet. „Ich habe sowas noch nie erlebt“, sagt sie. Sie kenne solche Polizeibrutalität nur von ihrem Vater, wenn dieser aus der Zeit der Diktatur und den Jahren des Übergangs zur Demokratie Ende der 1970er erzählt.

„Das ist keine Demokratie“, sind sich alle einig. Es sollte heute ihr Tag werden, friedlich und festlich. Das gantze Wochenende hatten Eltern die Schule hier in Barceloneta – und auch anderswo – besetzt, um zu verhindern, dass die Polizei sie versiegelt. „Wir wollen kein Mitleid“, sagt Araceli Vinaber, „wir wollen das Recht, über unsere Zukunft selbst zu entscheiden.“

Die Einheiten der Nationalpolizei und der Guardia Civil, die für die Einsätze verantwortlich zeichnen, wurden in den vergangenen Tagen eigens nach Katalonien verlegt. Sie sind unweit der Barceloneta im Chemiehafen in zwei Kreuzfahrtschiffen untergebracht. „Sie müssen nur aus dem Hafen und zweimal abbiegen, schon sind sie hier“, erklärt sich Rentner Vinaber, warum es die Schule hier an der Uferpromenade wohl als erste traf.

Mittlerweile stehen die beiden verbliebenen Urnen auf einem Tisch. Sie sind aus weisem Plastik, haben einen schwarzen Deckel, wie eine übergroße Tuber und sind mit roten Kabelbinder mit dem Aufdruck des Datums 1. Oktober 2017 verschlossen. Auf dem Stimmzettel gilt es „Ja“ oder „Nein“ zu einer unabhängigen Republik Katalonien anzukreuzen. Hinter den Urnen sitzen jeweils ein Wahlleiter und zwei Beisitzer.

Rund Tausend Menschen stehen in einer ewig langen Schlange geduldig an. Es geht langsam vorwärts. Es ist heiß und stickig auf dem Flur der Schule. „Es herrscht ein Cyberkrieg, wir haben immer wieder Aussetzer, wenn wir auf die Datenbasen mit dem Wählerregister zugreifen“, erklärt der junge Verantwortliche für die beiden Schulen in der Barceloneta in denen gewählt werden kann. Um seinen Hals trägt er ein Schild, dass ihn als Vertreter der Autonomieverwaltung ausweist. Doch seinen Namen will er lieber nicht gedruckt sehen. Die Staatsanwaltschaft hat angekündigt alle Wahlhelfer strafrechtlich zu verfolgen, wie mehrere Regierungsmitglieder und über 700 Bürgermeister, die das Refereenum unterstützen.

Die Menschen rufen immer wieder „Wir werden wählen“ und halten sich so bei Laune, obwohl es längst Mittagsessenszeit wäre. „Ich habe noch nie so lange Schlangen gesehen, bei keiner Parlamentswahl oder Autonomiewahl“, sagt einer derer, die anstehen. Ingesamt öffneten 73 Prozent der 3215 Wahllokale, erklärte der Sprecher der katalanischen Regierung.

Der katalanische Autonomiepräsident sprach, nach dem er seine Stimme abgab, von „dem unverantwortlichem, irrationalem und völlig masslosen Einsatz der Gewalt“. „Damit ist alles gesagt. Diese Schande wird sie ewig begleiten“, fügte er mit ernster Mine hinzu. Puigdemont musste im letzten Augenblick das Wahllokal wechseln, nachdem das in seinem Stadtteil von der paramilitärischen Guardia Civil besetzt worden war. Vizepräsident Oriol Junqueras wurde von Feuerwehrleuten eskortiert, die ihn vor der Polizei schützen sollten. Wie es am Tag nach dem Referendum weitergehen werde, darüber schwiegen sich die beiden aus.

„Es hat kein Referendum gegeben“, antwortete ihm aus Madrid die stellvertretende Ministerpräsidentin Soraya Sanz de Santamaría. Die Polizeieinsätze seien „verhältnismäßig“ gewesen. Die Regierung der konservativen Partido Popular (PP) habe wie immer „die Freiheiten“ verteidigt. Der Generalsekretär der sozialistischen PSOE, Pedro Sánchez, der das repressive Vorgehen der Regierung im Vorfeld der Abstimmung verteidigte, schwieg bis zum Nachmittag. Erst dann sprach er von einem „traurigen Tag“ und forderte „Gelassenheit und Dialog“.

Die einzige politische Kraft, ausserhalb des Lagers der Befürworter der Unabhängigkeit, die hart mit Rajoy in Gericht ging, ist die linksalternative Podemos. „Was die PP mit unserer Demokratie macht, widert mich an. Korrupte, Heuchler, Nichtsnutze“, twitterter Parteichef Pablo Iglesias bereits nach den ersten Polizeiübergriffen. Wohl am meisten Aufsehen erregte: Der FC Barcelona sagte zuerst sein Ligaspiel gegen Las Palmas ab, und spielte schließlich doch, allerdings ohne Publikum. „Aus Würde und Solidarität mit der Bevölkerung Kataloniens, können wir heute nicht spielen“, heißt es in einer Mitteilung auf Twitter. Las Palmas hatte erklärt mit einem Trikot mit der spanischen Fahne antreten zu wollen, um die Einheit des Landes zu verteidigen.

Die Schlange vor der Schule in der Barceloneta wird nicht kürzer. Immer neue Menschen kommen vorbei und stellen sich geduldig an. „Was mich am meisten ärgert, die Europäische Union dreht uns den Rücken zu. Das haben sie schon immer so gemacht. Im Balkan, bei der Syrienkrise“, erklärt Araceli Vinaber, die obwohl sie ihre Stimme längst abgegeben hat, einfach nicht nach Hause will.

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