© 2016 Reiner Wandler

„Arbeit, Freiheit, Würde!“

Die Bilder erinnern an Dezember 2010, als die Jugendproteste begannen, die am 14. Januar 2011 den tunesischen Diktator Ben Ali zu Falle brachten. Im zentraltunesischen Kasserine brennen einmal mehr die Barrikaden aus Autoreifen, die Polizei setzt Tränengas und Schlagstöcke ein. Mehrere Dutzend Menschen sollen verletzt worden sein. Die Zahl derer, die im örtlichen Krankenhaus wegen Tränengas behandelt werden mussten, geht in die Hunderte. Trotz einer vom Innenministerium verhängten Ausgangssperre kommt die Region nicht zur Ruhe. Wie einst vor fünf Jahren lautet die Parole: „Arbeit, Freiheit, Würde!“ und „Recht auf Arbeit!“ Das Zentrum Tunesiens ist arm.

L1207748Wie Ende 2010 in Sidi Bouzid wurden die jetzigen Proteste im nahegelegenen Kasserine durch den Selbstmord des 28-jährigen Arbeitslosen Ridha Yahyaoui am vergangenen Samstag ausgelöst. Er hatte einen Hochspannungsmasten bestiegen und an die Leitungen gefasst, nachdem seine Bewerbung um eine Stelle im öffentlichen Dienst abgelehnt worden war.

Die Proteste haben mittlerweile auf weitere zentraltunesischen Städte, wie Tahla, Fernana und Meknasi übergegriffen. Auch dort wurden Barrikaden errichtet und die Polizei mit Flaschen und Steinen beworfen. In mehreren Städten werden die Schulen bestreikt. In der Hauptstadt Tunis kam es am Montag zu einer Solidaritätskundgebung.

„Wir sind die vergessene Region Tunesiens“, erklärt Anwalt Nadj Bachsali am Telefon. Er verteidigte einst 2011 die Opfer der Polizeigewalt in Kasserine, das neben Sidi Bouzid Hochburg des arabischen Frühlings war, und steht auch jetzt wieder den Jugendlichen zur Seite. „Die nach der Revolution versprochenen Investitionen blieben bis heute aus“, sagt er. Die Arbeitslosigkeit ist mit offiziellen 30 Prozent doppelt so hoch wie im Landesschnitt. Kasserine ist ein Pulverfass. In den Bergen unweit der Stadt kommt es seit Jahren immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Islamisten aus dem Umfeld regionaler Al-Qaida-Ableger und der tunesischen Armee.

Anwalt Bachsali beschwert sich über den seiner Ansicht nach völlig überzogenen Polizeieinsatz. „Die Jugendlichen forderten weitgehend friedlich Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit“, sagt er. Die Regierung in Tunis hat mittlerweile eine Untersuchung der Vorfälle eingeleitet. Der Zivilgouverneur in Kasserine wurde abgesetzt. In den kommenden Tagen soll eine Parlamentsdelegation die Region besuchen. Die Abgeordneten haben Premier Habib Essid zu einer parlamentarischen Fragestunde über Jugendarbeitslosigkeit und sein Programm dagegen zitiert.

Was bisher geschah: