© 2015 Reiner Wandler

Hoffen auf den Wandel

Ich war dabei: Das Jahr des Wandels 2015

Mar Mas checkt auf ihrem Smartphone ständig die Auberginenpreise. Lange lagen sie bei 14 bis 17 Euro das Kilo. Jetzt kurz vor dem 20. Dezember haben sie schon 20 Euro erreicht. Es ist eine Preissteigerung, die Podemos-Anhänger ausnahmsweise freut.

In den letzten Tagen vor den Parlamentswahlen ist es in Spanien nicht mehr erlaubt, Wahlumfragen zu veröffentlichen. Eine Zeitung im kleinen Nachbarland Andorra, El Periòdic, aber übersetzt die Ergebnisse ihrer täglichen Meinungsforscher in Lebensmittelpreise – und spiegelt damit auch, wie die junge Protestpartei Podemos (Wir können) in der Gunst der Wähler wieder steigt.

Geht es nach Mar Mas, darf die Aubergine noch teurer werden.

Auf Mallorca ist es derzeit etwas wärmer, trotzdem hat die 49-Jährige sich einen Monat freigenommen um für die „Violetten“ in der Innenstadt von Madrid Wahlkampf zu machen. Eine Daunenjacke schützt gegen die Kälte, eine Mütze gegen den Wind.

„Ich wollte einfach dabei sein. So etwas passiert nur einmal im Leben“, ist sie sich sicher und hofft auf ein gutes Abschneiden des Spitzenkandidaten und Parteigründers, dem 37-jährigen Politikprofessor Pablo Iglesias, der einen „Wandel“ für Spanien nach vier Jahren harter Sparpolitik verspricht. Podemos steht für das Ende des bisherigen Zweiparteiensystems in Spanien.

Mas beantwortet Fragen zum Programm, hört zu, wenn Bürger von alltäglichen Sorgen berichten: Arbeitslosigkeit, der Nachwuchs auf der Jobsuche im Ausland, unbezahlte Stromrechnungen, kein Geld für die fällige Rate des Wohnungskredits. „Die ganze Auswirkung der Krise, wird deutlich“, erklärt Mas, bevor sie wieder auf einen Herrn zugeht, der aus der U-Bahn kommt, und ihm ein Flugblatt in die Hand drückt auf dem „Rettungspaket für die Bürger“ steht.

Mas selbst weiss was Krise bedeutet. Lange war sie Produzentin bei unterschiedlichen TV-Sendern, bis sie sich 2002 selbstständig machte. Sie drehte Dokumentarfilme über Umweltschutz, Reisen, Natur. „Bis 2007 die Finanzkrise die spanische Wirtschaft in den Abgrund riss“, berichtet Mas. Die Spekulationsblase in der Bauindustrie platzte, Banken crashten, Spanien schlüpfte unter den Rettungsschirm, die Sparpolitik begann.

Weniger Geld – weniger Werbung; weniger Werbung – weniger Aufträge. Die Filmemacherin musste ihr Unternehmen schließen und machte ihr Hobby, das Meer, zum Beruf. Sie legte das Kapitänspatent ab und schippert seither Schiffe anderer durch das Mittelmeer und die Karibik.

Im Mai, als die pensionierte Richterin Manuela Carmena mit der Bürgerliste Ahora Madrid (Jetzt Madrid) rund um Podemos die Kommunalwahlen in der Hauptstadt gewann, verfolgte Mas die Entwicklung aus der Ferne. „Dieses Mal hielt mich nichts, ich habe ein paar Aufträge abgesagt, ich will einfach dabei sein“, sagt sie voller Begeisterung. Es ist nicht das erste Mal, dass die engagierte Frau ihren Job für einige Zeit an den Nagel hängt. „Als 2011 die Empörten die Puerta del Sol in Madrid besetzten, kam ich auch. Was seither in Spanien geschieht ist einfach einzigartig.“Die vor knapp zwei Jahren entstandene Podemos ist für sie der „organisierte Ausdruck“ jener Empörung. „Es ist das erste Mal, dass ich Parteipolitik mache. Bisher war ich vor allem im Umweltbereich tätig“, fügt sie hinzu.

Immer wieder wirft Mas einen schnellen Blick auf den Messengerdienst ihres Smartphones: „Wir brauchen einen Fahrer, fünf Leute zum Flugblattverteilen, Plakatieren heute Abend um 21 Uhr 30 …“, lauten die Nachrichten in der Gruppe „Mannschaft Kampagne Zentrum“. Als der Wahlkampf vor zwei Wochen begann, hatte sich gerade einmal 23 Mitglieder eingeschrieben. Jetzt sind es über 80. Alle investieren, wie Mas, ihre Freizeit. Sie kommen aus den vier Círculos (Kreisen) in der Innenstadt, den Basisversammlungen von Podemos. Hauptberufliche gibt es keine. Fehlende Infrastruktur wird mit Arbeit wett gemacht.

Podemos hat kaum Lokale. Alles Material für die Drei-Millionenstadt wird im Versammlungsraum eines Círculos unweit des Flughafens gelagert. Der Lieferwagen, mit dem Flugblätter und Plakate an die Tische gebracht werden, gehört einem Sympathisanten, der den Wagen kostenlos zur Verfügung stellt.

Anders als die beiden alten Parteien, die regierende, konservative Partido Popular (PP) und die sozialistische PSOE, oder die ebenfalls zum ersten Mal antretende, rechtsliberale Ciudadanos (Bürger) hat Podemos keine Millionenkredite bei den Banken aufgenommen. Der Wahlkampf wird über Kleinstkredite der Sympathisanten finanziert. Zwei Millionen Euro sind so zusammengekommen. Das reicht für Material, für Säle aber nicht für große Plakatwände, Schilder an den Straßenlaternen oder gar für zusätzliche Fernsehwerbung und Anzeigen.

„Ich habe kein Geld gegeben. Ich nutze mein Erspartes, um hier zu sein und zu arbeiten. Das ist mein Beitrag“, sagt Mas. Infotisch am Morgen, Flugblätter verteilen am Nachmittag. Sie fährt den Lieferwagen, baut Bühnen für kleine Meetings auf, oder ist bei Großveranstaltungen, wie am vergangenen Sonntag als Pablo Iglesias und die neue Bürgermeisterin aus Barcelona und einstige Aktivistin gegen Zwangsräumungen von Wohnungen, Ada Colau, vor mehr als 11.000 Menschen redeten, als Produktionsassistentin tätig.

Podemos setzt neben Großveranstaltungen mit Spitzenkandidat Iglesias auf Präsenz in den sozialen Netzwerke, Infostände und Tausende kleinere Veranstaltungen überall im Land in Dörfern und Stadtteilen. „Die Straße fragt“, heisst es dann. So wie am Samstag früh, als auf einem Platz gleich auf der anderen Seite des Flusses Kandidaten und Vertreter von Podemos, sowie Mitglieder der neuen Madrider Stadtregierung Rede und Antwort standen. Es kommen Bürger, die einfach ihrem Unmut Luft machen wollen, oder von ihren sozialen Nöten reden: „Wählt auf keinen Fall die beiden Altparteien“, ruft einer. „Wenn ihr an die Regierung kommt, macht was für uns Langzeitarbeitslose, alle haben uns vergessen“, sagt eine Frau über 50. Ihr Mann – Maler und Tapezierer – berichtet, dass er, um die Familie versorgen zu können, mittlerweile in die Schweiz ausgewandert ist.

Meist gehen die Fragen an die Vertreter der Stadtverwaltung. „Warum ist der Drei-Königsumzug kürzer als im vergangenen Jahr?“ will eine Mutter wissen. „Was für Pläne hat die Stadtverwaltung mit der Casa del Campo“, dem großen Stadtwald, der hier einen seiner Eingänge hat, fragt ein älterer Anwohner. „Warum führen die Verkehrsbetriebe keine Linien innerhalb des Parks mit Elektrobusen ein?“ regt der Sprecher eines Nachbarschaftsvereins an.

„Madrid hat sich total geändert, endlich werden die Menschen eingebunden, können sich beteiligen“, beschreibt Mas, wie sie ihre Stadt vorgefunden hat. Neben den Fragestunden mit Kommunal- und Regionalpolitiker von Podemos, die auch ausserhalb des Wahlkampfes regelmässig stattfinden, gibt es ein Portal für Bürgerbeteiligung im Netz. Dort können Anträge formuliert werden. Erhalten sie genügend Unterstützung, kommen sie auf die Tagesordnung des Stadtrates.

Auch sonst hat sich viel geändert, seit die Konservativen nach mehr als 20 Jahren das Bürgermeisteramt verloren haben. Das neue Stadtoberhaupt Carmena hat die Dienstwägen abgeschafft und fährt U-Bahn. Ein eigens eingerichtete Dienststelle vermittelt bei drohenden Zwangsräumungen zwischen Betroffen und Banken. Wer dennoch seine Wohnung verliert, bekommt von der Stadt eine Unterkunft gestellt. Während der Sommerferien wurden bedürftige Kinder, die das Jahr über kostenlos an der Schulspeisung teilnehmen, weiterhin mit warmen Malzeiten versorgt. Der Sozialhaushalt für 2016 wurde um 24 Prozent aufgestockt.

Dennoch zahlt Madrid brav die Schulden ab, die sich dank gigantischer Bauprojekte zur Zeit des billigen Geldes auf über 5 Milliarden Euro angehäuft haben. In den anderen Kommunen, in denen, wie etwa in Barcelona, Zaragoza oder Cádiz, ebenfalls Podemos-nahe Bürgerlisten regieren, sieht es ähnlich aus. Die „Städte des Wandels“ dienen im Wahlkampf als Beispiel, dass Podemos regieren kann und dies trotz Krise besser und gerechter macht.

„Immer mehr Menschen kommen an die Infotische und zu den Veranstaltungen“, berichtet Mas. Die Umfragen bestätigen das zunehmende Interesse an Podemos. Die sozialistische PSOE und Ciudadanos, die beide ebenfalls „Wandel“ versprechen und teilweise Programmpunkte und den Stil von Podemos kopieren, verlieren im Laufe des Wahlkampfes immer mehr an Zustimmung, während die Protestpartei zulegt. Überall im Land sind die Säle zu klein. Hunderte, manchmal Tausende, finden keinen Platz. „Aufholjagd“ nennen sie das stolz.

„Wir werden die große Überraschung am Wahlabend sein“, sagt Mas mit einem zufriedenen Lächeln. Einmal mehr checkt sie die Lebensmittelpreise aus Andorra. Die sozialistische PSOE wird wegen der Parteifarbe von der Erdbeere symbolisiert, die Ciudadanos von einer Orange, der Wasserpreis steht für die Werte der regierenden PP.  Die Aubergine kostet mittlerweile knapp 20,40 Euro. Es fehlt nur ein Euro, um vor den Erdbeeren zum zweitteuersten Produkt zu werden. Allerdings wird Wasser  trotz starken Preisverfall immer noch mit knapp 26 Euro am teuersten gehandelt. Die Orangen kosten nur noch 16 Euro.

Was bisher geschah: