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Proteste gegen Amnestie für Korrupte

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„Weder Angst, noch Terror, die Straße gehört dem Volk“, hallte es am Samstag durch die Innenstadt von Tunis. Hunderte Anhänger linker Parteien und Bürgerrechtsorganisationen demonstrierten gegen eine geplante Amnestie für Korruptionsfälle. Es war der bisherige Höhepunkt einer Protestwelle, die seit Wochen in vielen Städten Tunesiens immer wieder die Menschen auf die Straße gehen lässt. Und das trotz Ausnahmezustand, der seit dem blutigen Terroranschlag im Urlaubsort Sousse im vergangenen Juni, bei dem 38 Menschen ihr Leben verloren, gilt. Jedwede Demonstration ist seither verboten.

Die Menschen fürchten um die Errungenschaften ihrer Revolution, die im Januar 2011 den langjährigen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali zu Sturz brachte. Es war der Aufstand gegen fehlende Demokratie, Machtwillkür und vor allem gegen ein durch und durch korruptes Regime. Der Clan um Ben Ali hatte sich – so eine Studie der Weltbank – mit Hilfe eines breiten Korruptionsnetzwerkes im Staats- und Parteiapparat, der Verwaltung sowie in staatlichen Betrieben nach Schätzung der Weltbank rund 13 Milliarden US-Dollar unter den Nagel gerissen. Das entspricht 25 Prozent des BIPs Tunesiens im Jahre 2011. Die nach dem Umsturz beschlagnahmten Unternehmen der Familie Ben Ali entsprechen 3,2 Prozent der Produktion und 21,3 Prozent der gesamten Gewinne der Privatwirtschaft in Tunesien.

Die Verbrechen, die zur wirtschaftlichen Plünderung Tunesiens führten, sollen jetzt amnestiert werden. Dazu stellte die Regierung von Staatschefs Béji Caid Essebsi am 14. Juli ein „Gesetz zur wirtschaftlichen Aussöhnung“ vor. Wer die unrechtmässig erhaltenen Gelder plus 0,5 Prozent Zinsen pro Jahr zurückgibt soll einer Strafverfolgung entgehen.

Diese Maßnahmen solle Investitionen anregen, so Essebsi. Denn viele Unternehmer hätten Angst vor richterlicher Verfolgung ihrer Verwicklungen in das Korruptionsgeflecht des alten Regimes und würde sich deshalb nicht engagieren. Eine Amnestie würde Geld freisetzen; das wiederum dringend benötigten Arbeitsplätzen schaffen, so seine Rechnung. „Wir haben diesen Gesetzentwurf ausgearbeitet, um nach vorn zu schauen, für die Jugend“, erklärte der Präsident.

Für die Gegner ist dies eine Art Selbstamnestie. Denn so mancher aus den Reihen von Essebsis Partei Nidaa Tounes kommt aus der einstigen Einheitspartei und dem Staats- und Parteiapparates von Ben Ali. Essebsi selbst war mehrmals Minister im alten Regime. Bis heute ist Tunesien von der Korruption geplagt. Bei Transparency International liegt das Land auf Rang 79 von 175 untersuchten Ländern.

„Der Gesetzesentwurf kommt einer Legalisierung der Korruption gleich“, beschwert sich Sihem Bensedrine. Die ehemalige Exilpolitikerin und Verteidigerin der Menschenrechte steht seit vergangenem Jahr der „Instanz für Wahrheit und Würde“ (IVD) vor. Diese soll – so der parlamentarische Auftrag – Menschenrechtsverletzungen und Korruption im alten Regimes untersuchen. Das Amnestiegesetz ist für Bensedrine ein schwerer Eingriff in ihre Kompetenzen. Essebsi hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die IVD – die vor seiner Wahl zum Staatschef ins Leben gerufen wurde – am liebste verhindert hätte. Der Staatschef hat bis heute Bensedrine nicht empfangen und die Gelder für die IVD fließen nur spärlich. Die streitbare IVD-Präsidentin ist immer wieder harten Angriffen der regierungsnahen Presse ausgesetzt. Diese fordert ihre Absetzung, nachdem immer wieder IVD-Mitglieder nach internen, von den Parteien geschürten Konflikten, ihr Mandat niedergelegt haben.

Auch die einflussreiche Gewerkschaft des Landes, die UGTT, steht den Amnestieplänen skeptisch gegenüber. „Wir werden das Gesetz in seiner jetzigen Form nicht akzeptieren“ erklärte ein Vorstandssprecher. Bisher ist noch unklar, wann das Gesetz dem Parlament zur Debatte und Abstimmung vorgelegt werden soll. In der Nationalversammlung hat Essebsi dank einer Koalition von Nidaa Tounes mit der islamistischen Ennahda und zwei kleineren, liberalen Parteien die Mehrheit.

Was bisher geschah: