© 2015 Reiner Wandler

Die Empörten an der Macht

Madrid, eine der korruptesten Städte Spaniens, wird künftig von der pensionierten Richterin Manuela Carmena regiert. In Barcelona, einer der Städte mit den höchsten Zahlen an Zwangsräumungen säumiger Wohnungseigner, sitzt mit Ada Colau eine Aktivistin gegen eben diese Räumungen im Bürgermeisteramt. Und in Valencia, Hauptstadt einer Region wo die Küste wie sonst kaum irgendwo am Mittelmeer zugebaut wurde, nimmt ein Umweltschützer die Geschicke der Stadt in die Hand. Am Samstag traten überall im Land die am 24. Mai gewählten Gemeinde- und Stadträte zusammen. Sie wählten die Stadtregierungen und vollzogen so den Wandel, den die Urnen erbracht hatten.

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In fünf der zehn größten Städte Spaniens – Madrid, Barcelona, Zaragoza, Cádiz, A Coruña – regieren erst vor wenigen Monaten entstanden Bürgerlisten unter Beteiligung der neuen Protestpartei Podemos, und in einer weiteren Stadt – Valencia – ziehen die Ökosozialisten von Compromis ins Bürgermeisteramt ein. Die noch in Spanien regierende Partido Popular (PP) von Ministerpräsident Mariano Rajoy wird künftig mit Málaga und Murcia nur noch zwei der zehn größten Städte halten. Sevilla und Las Palmas gehen an die Sozialisten, dank der Unterstützung durch die dortigen Bürgerlisten.

Am Samstag glichen sich die Bilder überall: Tausende von Menschen versammelten während der Investitur vor den Rathäusern. Kaum war die Abstimmung über das Bürgermeisteramt beendet, brach Jubel aus. Die frischgewählten Bürgermeister und Bürgermeisterinnen traten auf die Straße und wurden begeistert gefeiert. „Sie vertreten uns“, lautete einer der Parolen in Anlehnung an jenes „Sie vertreten uns nicht“ der Empörten, als diese vor vier Jahren überall im Lande die Plätze aus Protest gegen Korruption und verknöchertes Zweiparteiensystem besetzten. In Madrid fand bis tief in die Nacht ein Volksfest in einer der historischen Parkanlagen der Altstadt statt.

„Wir werden zuhören beim Regieren“, versprach die neue Bürgermeisterin Madrid, die 71-jährige pensionierte Richterin Manuela Carmena. Ihre Liste Ahora Madrid (Jetzt Madrid) erreichte mit Unterstützung der kleinen, sozialistischen Fraktion die Mehrheit im Stadtrat. Nur eine Stunde nach der Investitur rief Carmena ihre Dezernenten erstmals zusammen. Sie beschlossen die Senkung der Gehälter für die Mitglieder der Stadtregierung und die Angehörirgen der Fraktion von Ahora Madrid, die Einrichtung eines Büros zur Untersuchung und Bekämpfung der Korruption, sowie Schulspeisung drei Mal täglich für alle bedürftigen Kinder zwischen 3 und 13 Jahren auch in den Sommerferien.

Ausserdem will Carmena künftig bei Zwangsräumungen von Wohnungen vermittelnd eingreifen und – falls das nicht hilft – Sozialwohnungen für die Betroffene zur Verfügung stellen. Wenige Tage nach der Wahl am 24. Mai traf sich Carmena bereits mit den zuständigen Richtern sowie mit Vertretern der aus der hauptstädtischen Sparkasse hervorgegangenen Bankia. Carmena will „im Dienste der Bürger“ regieren und damit „all diejenigen verführen, die uns nicht gewählt haben“.

Die neue Bürgermeisterin von Spaniens zweitgrößter Stadt Barcelona ist die 41-jährige Aktivistin Ada Colau. Sie wurde mit den Stimmen ihrer Bürgerliste „Barcelona en Comú“ (Barcelona gemeinsam) und mehreren linken Parteien ins Bürgermeisteramt gewählt. Colau versprach am Samstag in der bisher von den konservativen, katalanischen Nationalisten von CiU regierten Stadt „unter die Teppiche zu schauen“.

Auch in Barcelona steht das Thema Zwangsräumungen ganz oben auf der Liste. Neben weiteren sozialpolitischen Massnahmen will Colau die Ansiedlung und Entstehung neuer Unternehmen fördern, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Wirtschaft der katalanischen Metropole zu diversifizieren. Wie die restlichen Bürgerlisten auch, will Barcelona en Comú die Privatisierung im öffentlichen Dienst rückgängig machen. „Werft uns hinaus, wenn wir nicht machen, was wir versprochen haben“, richtete sich eine sichtlich gerührte Colau in der Antrittsrede an ihre Wähler.

 

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Meine Meinung

Erster Schritt auf einem steinigen Weg

 

Seit Samstag werden Millionen von Spaniern von einer Stadtverwaltung regiert, in der Bürgerlisten und links-alternative Politiker das Sagen haben. Die Veränderung beginnt in den großen Städten, jubeln die Sprecher der neuen Protestpartei Podemos, die an dieser Entwicklung nicht unerheblich beteiligt war. Die Kommunalpolitik soll den Weg zu einem Wahlsieg im kommenden Herbst ebnen. Es wird kein leichtes Unterfangen.

Seit vor einem Jahr Podemos bei den Europawahlen erstmals ein überraschend gutes Ergebnis erzielte, wird den neuen Politikern vorgeworfen, ihre Pläne, die sozialen und politischen Rechte über die Austeritätspolitik zu stellen, seien unrealistisch, führten Spanien in den Ruin, ja gefährden Europa.

Jetzt können die Bürgerlisten das Gegenteil beweisen. Viele derer, die in der mittlerweile ins achte Jahr gehenden Krise leiden, die Teile ihre Einkünfte, oder gar den Arbeitsplatz und die Wohnung verloren haben, setzen ihre Hoffnung auf das Versprechen „Menschen statt Banken zu retten“. Eine gute Arbeit auf kommunaler Ebene wird denen die Angst nehmen, die trotz der Unzufriedenheit mit der alten Politik, nicht an die Fähigkeit der Neuen glauben.

Der Weg für Podemos in den Regierungspalast Moncloa, von wo aus zuerst die Sozialisten und jetzt die Konservativen im Dienste der EU alles kürzten, was ihnen an Sozialpolitik entbehrlich erscheint, wird sich mit jedem kommunalen Erfolg ebnen. Aber auch jeder noch so kleine Fehltritt wird für Schlagzeilen sorgen und verheerende Folgen haben.

Diejenigen, die das alte Zweiparteiensystem verteidigen, die bisher bequem von Korruption und Vetterleswirtschaft in Städten und Gemeinden gelebt und vor der neoliberalen Sparpolitik und den Privatisierungen profitiert haben, werden die neuen Stadtverwaltungen mit Argusaugen beobachtet und alles tun, damit sie scheitern. Dabei können sie auf starke Verbündete in Brüssel und Berlin setzen.

Die kommenden Monate werden nicht nur für Spaniens „Empörten“ entscheidend sein, sondern auch für all diejenigen, die den Traum von einem anderen Europa noch nicht aufgegeben haben.

Was bisher geschah: