© 2015 Reiner Wandler

Geschichten aus der Krise

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Was ist für Sie Spanien? Die Antworten auf eine Umfrage des Real Instituto Elcano waren zu erwarten. Wie jedes Jahr nannten die jeweils 400 Befragten aus zehn Ländern auf vier ­Kontinenten: «Stierkampf», «Fussball», «Fest» und «Sonne». Doch was verblüfft: Dieses Jahr hat es ein neuer Begriff in die Liste des Institutes, das seit 2001 über internationale Beziehungen aus spanischer Sicht berichtet, geschafft: «Krise».

Während die US-Amerikaner – Hemingway sei Dank – nach wie vor an erster Stelle an Fiesta und Stierkampf denken, antworten die Befragten in den Nachbarländern Marokko und Frankreich mit «Krise». Unter den Deutschen steht dieser Begriff nach «Sonne» an zweiter Stelle. Dies sei «die Folge der Berichterstattung der internationalen Medien», erklärt ein Sprecher des Institutes. Seit Jahren investiert die konservative Regierung in Werbung für die «Marke Spanien», wie sie das nennen. Und jetzt so etwas. Die Wogen in der heimischen Presse schlagen hoch.

Denn während die konservative Regierung von Aufschwung redet, steht Spanien ­international nach wie vor für die soziale ­Ungerechtigkeit als Folge der Sparpolitik. 25 Prozent der Menschen sind arbeitslos. Über die Hälfte bekommt keinerlei Stütze mehr. 570 000 Zwangsräumungsverfahren gegen säumige Schuldner wurden seit 2007 eingeleitet. Jeder vierte Spanier lebt unter der Armutsgrenze. Bei Kindern ist es jedes dritte. 34 Prozent derer, die noch Arbeit haben, verdienen 625 Euro oder weniger. Gleichzeitig werden die Reichen immer reicher. Alleine im vergangenen Jahr nahm die Zahl der Millionäre um 24 Prozent zu. All das hat sich – natürlich dank der Berichterstattung – auch im Ausland herumgesprochen.

Nicht nur. Denn die Krise bedroht den Kern der «Marke Spanien» selbst. Und das bekommen auch die Touristen mit. In vielen Gemeinden muss gespart werden. «La Fiesta» leidet darunter. Denn für Kultur, Musik und Tanz ist kaum noch Geld da. Und selbst «La Fiesta nacional» – wie die ­Anhänger des Stierkampfes ihr Lieblingsspektakel ­nennen – ist nicht mehr das, was sie einmal war. 2014 fanden rund 500 Stierkampfnachmittage weniger statt als vor dem Zusammenbruch der Bauindustrie und dem Absturz der Finanzmärkte und Banken. Tausende von Stieren wurden gezüchtet und finden jetzt keine Abnehmer. Das betrifft nicht die grossen, bekannten Fincas und auch nicht die namhaften Stierkampfarenen wie Madrid, Pamplona oder Sevilla. Es betrifft die kleinen Zuchtbetriebe und die Arenen in Dörfern und Gemeinden, wo üblicherweise nur während der Dorffeste Stierspektakel veranstaltet werden. Viele Gemeinden haben den Stierkampf aus dem Programm gestrichen.

Sechs Stiere pro Nachmittag ist einfach zu teuer in Zeiten der Austerität. Den Züchtern ­drohen hohe Verluste. Das Geschäft rund um die Kampfstiere macht 0,25 des BIP aus. Das sind 2,5 Milliarden Euro jährlicher Umsatz und 200 000 direkte Arbeitsplätze.

Auch Spaniens Kinoindustrie und die Theaterwelt ächzen unter der Krise. Seit Herbst 2012 wurde die Mehrwertsteuer für Kulturprodukte auf 21 Prozent erhöht. Das ist weit mehr als im ­restlichen Europa, wo die Kultur meist unter zehn Prozent bezahlt. Die Eintrittspreise stiegen, ­während das Publikum immer weniger Geld in der Tasche hat. Alleine in den ersten drei Monaten nach der Steuererhöhung sank der Verkauf von Eintrittskarten für Kino und Theater um rund ein Drittel. 600 Arbeitsplätze in Theatern gingen ­verloren. Nur jeder vierte Schauspieler kann von seiner Arbeit leben. 55 Prozent der Schauspieler verdienen weniger als den Mindestlohn von 645 Euro im Monat.

So mancher in der Welt der Kultur sieht diese Steuererhöhung als Strafmassnahme seitens der Regierung unter Mariano Rajoy. Denn Spaniens Schauspieler, Regisseure und Liedermacher sind meist fortschrittlich eingestellt. Sie unterstützten einst die Proteste gegen den Irakkrieg, in den der damalige, ebenfalls konservative Regierungschef José María Aznar das Land führte. Rajoy selbst verlor zweimal die Wahlen gegen den Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero. Dieser genoss im Wahlkampf eine breite Unterstützung seitens der Kulturschaffenden. Jetzt – im Superwahljahr 2015 – will die Regierung die Mehrwertsteuer für Kultur wieder senken. Zehn Prozent sollen es künftig sein, übrigens auch für den krisengeschüttelten Stierkampf, der von den Konservativen zum nationalen Kulturerbe ernannt wurde.

Von der Mehrwertsteuererhöhung 2012 ­wurden mehrere Bereiche ausgenommen. Was niemand so recht verstehen kann, sind zwei dieser Sonderregelungen. Schnittblumen werden nur mit zehn Prozent besteuert. Und während ein E-Book mit 21 Prozent versteuert wird, sind es bei gedruckten Büchern, Zeitungen und Zeitschriften nur vier Prozent. Denn sie sind Produkte des ­täglichen Bedarfs. Diese Regelung gilt auch für Pornos aller Art, solange sie auf Papier vertrieben werden.

Was bisher geschah: