© 2014 Reiner Wandler

Totgesparte Bäume

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Die Madrilenen fürchten nur eines. Nein, nicht dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt, sondern ein Baum. In den letzten Monaten häufen sich die tragischen Unfällen in Parks und Alleen. Im Juni erschlug ein 400 Kilogramm schwerer Ast den 38-jährigen Carlos Álvarez, während er mit seinen beiden Kindern im bekanntsten Park der Hauptstadt, dem Retiro, spielte. Und vor wenigen Tagen traf es in einem Vorort einen 72-jährigen Rentner. Auch er wurde von einem Baum erschlagen. Insgesamt 15 Fälle herabfallender Äste und umstürzender Bäume zählt die Opposition seit Frühjahr. Ein Kind wurde schwer verletzt, sechs Personen, die unweit der zentralen Puerta del Sol ein Bierchen auf einer Terrasse genossen, wurden leicht verletzt. Mehrere PKWs wurden schwer beschädigt und selbst ein Linienbus wurde getroffen. Madrid diskutiert: Spielt die Natur verrückt? Ja, meint die Stadtverwaltung. Nein, Opposition und Gewerkschaften. Sie suchen die Verantwortung bei der Politik.

Madrid hat insgesamt zwei Millionen Bäume und ist damit, wer hätte dies gedacht, eine der grünsten Städte Europas. „In Madrid sind schon immer Äste heruntergefallen“, erklärt die Bürgermeisterin und Ehefrau des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar, Ana Botella. Das dies derzeit für Schlagzeilen sorge, sei den beiden unglücklichen Todesfällen zu schulden. „Alles Schlechte passiert ausgerechnet dieses Jahr?“ hält ein Oppositionspolitiker dagegen. Er sieht die Ursache in der Sparpolitik, der mit sechs Milliarden Euro hochverschuldeten Stadt.

Die Gewerkschaften geben ihm recht. Vor einem Jahr wurde das Unternehmen, das ausschließlich für die Pflege der Bäume zuständig war, geschlossen. Die weitgehend privatisierte Stadtreinigung und die Parkpflege wurden zusammengelegt; die Stadt in vier Gebiete aufgeteilt und jedes in einem „integralen Vertrag“ ausgeschrieben. Die vertraglich festgelegten Aufgaben reichen von der Straßenreinigung, über Reparatur am urbanen Mobiliar bis hin zur Wässerung und Pflege von Parks und Grünanlagen, Bäume inbegriffen.

Die Bewerber unterboten sich gegenseitig. Den Zuschlag erhielten letztendlich vier Tochterunternehmen großer, spanischer Baukonsortien, die sich in der Immobilienkrise nach neuen Betätigungsfeldern umsahen und diese in den privatisierten öffentlichen Diensten fanden. Insgesamt kosten die vier Verträge die Stadtverwaltung 1,9 Milliarden Euro für die kommenden acht Jahren. Madrid sparte gegenüber den bis dahin gültigen Verträgen 629 Millionen Euro ein.

Doch mehr für weniger gibt es nicht. Also gab der Ausschreibungsgewinner geben den Druck nach unten weiter. Zuerst sollten Straßenkehrer entlassen werden. Ein wochenlanger Streik konnte dies verhindern. Stattdessen wurden die Arbeitszeit zusammengestrichen. Jeder Arbeiter verliert 45 Tage im Jahr. Die Gewerkschaften rechnen vor, dass dadurch Tag für Tag 228 Arbeiter weniger in Straßen und Parks unterwegs sind, als vor den Kürzungen. „Wir haben weniger Pesonal und vor allem weniger Spezialisten. Wenn die Belegschaft komplett wäre, könnten wir rechtzeitig erkennen, ob ein Baum krank ist oder nicht“, erklärt ein Gewerkschaftssprecher.

Um dies zu unterstreichen machten Gewerkschaften und Opposition die Statistik der gefällten, kranken Bäume öffentlich. Waren es 2011 noch 4.585 Exemplare, die durch junge Bäume ersetzt werden mussten, waren es im Vorjahr nur noch 2.843. Das sind 38 Prozent weniger. „Die Arbeitsbrigaden können nur die dringendsten Aufgaben erfüllen. Sie arbeiten im Akkord. Es ist unmöglich eine ordentliche Arbeit abzuliefern“, heisst es aus den Gewerkschaften.

Doch das ist nicht alles. Es gibt eine Reihe weiterer Probleme, die ebenfalls mit der Sparpolitik zu tun haben. Die Bäume wurden in den letzten Jahren gezielt so beschnitten, dass ihnen weniger Blätter wachsen und sie damit weniger Arbeit für die Straßenkehrer im Herbst verursachen. Außerdem werden die Bäume mit aufbereitetem Abwasser gegossen. Immer wieder melden sich Spezialisten zu Wort, die kritisieren, dass die Pflanzen dieses mit Chemikalien verunreinigte Wasser nicht so gut aufnehmen wie Trinkwasser. Das würde zu Schwächung der Bäume führen. Zudem wurde in vielen Parks das Bewässerungssystem umgestellt. Statt wie bisher die Bäume direkt zu bewässern, wird der gesamte Park besprenkelt. Das Wasser bleibt an der Oberfläche. Die Bäume bilden ein weites, aber nicht allzu tiefes Wurzelwerk aus. Bei einem Sturm fallen sie dann einfach um.

„Carlos ist Opfer der Sparpolitik“, erklärt die Schwester des Mannes, der im Juni erschlage wurde. Die Familie hat Strafanzeige gegen die Stadtverwaltung gestellt. Bürgermeisterin Botella wird den Prozess nicht mehr im Amt erleben. Sie kündigte nur einen Tag nach dem zweiten Todesfall an, bei den Wahlen im kommenden Mai nicht kandidieren zu wollen.

Was bisher geschah: