© 2014 Reiner Wandler

Der Geisterfahrer

Jorge Verstrynge

„Ich war, politisch gesehen, wohl ein bisschen schizophren“, lächelt Jorge Verstrynge. Ein kurzer Blick reicht, um zu verstehen, was der 65-jährige Politikprofessor an der Universität Complutense in Madrid meint. Im überfrachteten Bücherregal hinter dem Sessel auf dem er sich der hagere Weißhaarige gemütlich gemacht hat, stehen politische Traktate, von Hitlers „Mein Kampf“, über Schriften De Gaulles, bis zum „Kommunistischen Manifest“ von Marx. Das Wohnzimmer schmückt ein Bild von Robespierre, das Schlafzimmer eine große rote Fahne aus den Zeiten der UDSSR mit dem Konterfei Lenins. „Als Jugendlicher war ich Faschist dann National-Bolschewist, heute stehe ich der Protestbewegung Podemos nahe“, resümiert Verstrynge seinen langen politischen Werdegang von ganz rechts nach ganz links, den in Spanien viele kennen, aber nur wenige wirklich verstehen.

Bekannt wurde Verstrynge als junger Erwachsener in den ersten Jahren nach Ende der Franco-Diktatur. Er brachte es bis zum Generalsekretär der Alianza Popular, Vorgängerorganisation der heute in Spanien regierenden, konservativen Partido Popular. 1983 kandidierte Verstrynge erfolglos zum Bürgermeister in Madrid, war Parlamentsabgeordneter der AP, bis er Anfang der 1990er Jahre zur sozialistischen PSOE wechselte. Auch ihr drehte er bald den Rücken, wurde Berater des Generalsekretärs der spanischen Kommunisten. Und heute steht er der linken Protestbewegung Podemos – „Wir können“ – nahe. Mit deren Gründern, einer Handvoll Universitätsprofessoren teilt er Fakultät und Hörsäle. „Parteichef Pablo Iglesias war mein brillantester Schüler. Er ist so etwas wie ein Sohn für mich“, sagt Verstrynge stolz über den jungen Politiker, dessen Podemos bei den Europawahlen auf Anhieb acht Prozent holte und seither unaufhörlich in den Umfragen steigt.

„Wenn jemand nur einigermaßen bei Verstand ist, wird er in diesen Zeiten immer wütender und immer mehr links“, erklärt Verstrynge, warum er sich heute zu Linken „ohne Anführungsstrichen“ – wie er das nennt – zählt. Die soziale Frage sei schon immer so etwas wie „der rote Faden“ in seinem bewegten politischen Leben gewesen. „Die Reichen verteidigen sich selbst, die Armen nicht“, erklärt er, warum er die Nähe zu den „Empörten“ suchte, die am 15. Mai 2011 in Madrid ihr Protestlager an der zentralen Puerta del Sol errichteten. „Selbst in der Franco-Diktatur konnten die Arbeiter nicht einfach so entlassen werden, oder Schuldner zwangsgeräumt werden, wie heute“, sagt er. „Es gab auch früher brutale soziale Unterschiede, aber nicht wie jetzt, wo so mancher das Tausendfache des Mindestlohnes verdient.“ Natürlich habe er sich nach links entwickelt. „Aber das Land ist nach rechts abgedriftet“, sagt Verstrynge und wird leidenschaftlich, ja laut. Er vergleicht sich gerne mit einem Geisterfahrer. Während sich alle rasend schnell nach rechts entwickelten, habe er die Gegenrichtung eingeschlagen.

Seit jenem Mai 2011 ist Verstrynge unermüdlich gegen die Krisenpolitik und ihre Folgen auf der Straße. „Neun Monate lang blockierten wir 2012 täglich für 30 Minuten die Kreuzung vor dem Krankenhaus“, berichtet er über den erfolgreichen Bürgerprotest gegen geplante Privatisierungen im Gesundheitssystem im Rahmen der Sparpolitik. Auch bei Aktionen gegen die Zwangsräumungen von Wohnungseigentümern, die ihre Kredite nicht mehr bedienen können, macht er an der Seite seiner Frau mit. Und Verstrynge gehörte zu den Letzten die aus einem besetzten Sozialzentrums unweit seiner Wohnung geräumt wurden.

Nicht nur die Presse, auch die Polizei nimmt sich gerne seiner an. Jüngst wurde Verstrynge verhaftet, als er trotz Demonstrationsverbot mit ein paar Hundert am Krönungstag von Felipe VI. auf der Madrider Puerta del Sol für die Republik demonstrierte. Das Bild des Weisshaarigen in Jeans und T-Shirt mit einem rot-gelb-purpurenen Aufdruck, den Farben der Republik, umringt von Polizisten mit Helm und kugelsicherer Weste verbreitete sich in Windeseile übers Netz. Noch diesen Monat muss Verstrynge deswegen vor den Richter.

Ein Gespräch mit dem ruhigen, sympathischen Mann wird schnell zu einem politischen Hochschulseminar. Spanien ist für ihn „parlamentarisch repräsentativ aber nicht demokratisch“. Demokratie gebe es nur wenn das Volk per Volksabstimmung entscheiden könne, „und die Möglichkeit hat, die Inhaber politischer Ämter per Referendum abzuwählen, wenn sie ihr Versprechen nicht einhalten, wie in Venezuela“. Er schimpft auf Bankenrettung, Korruption und die Monarchie, „dieses System, wo die Staatsführung in der Geschwindigkeit eines Spermas und einer Eizelle vererbt wird“, analysiert die europäische Wirtschaftspolitik, philosophiert über die „Rückeroberung der monetären Souveränität im Europa des Euro“. Wenn er vom „Regime“ und von „den Herrschenden“ redet, benutzt er gerne den Ausdruck „Jauría“ zu deutsch „die Meute“. Es ist eine „Kaste von Raubtieren, die die Schwachen verschlingen“, sagt er und verweist egal bei welchem Thema immer wieder auf allerlei zeitgenössische französische Politologen und Philosophen. Dabei steckt er sich eine Gitanes nach der anderen an. Wenn sein Handy klingelt, ertönt die französische Nationalhymne, die Marseillaise. Immer wieder sind es Studenten, die irgendein Problem mit einer Hausarbeit oder den bevorstehenden Prüfungen haben.

Sein ungewöhnlicher politischer Weg sei „familiär angelegt“, versucht sich Verstrynge an der Erklärung seiner selbst. Er wurde 1948 im marokkanischen Tanger als Sohn französisch-spanischen Familie geboren, lebte in Rabat und Oran. Sein belgischstämmiger Vater war Faschist und wie Sohn Jorge Anhänger der OAS, der französischen Untergrundarmee, die im Algerienkrieg gegen Paris für einen Verbleib des Landes in europäischer Hand kämpfte. Nach der Trennung seiner Eltern heiratete die Mutter bald erneut, einen französischen Kommunisten, der in einer Baufirma als Projektleiter arbeitete. „Das ist mein eigentlicher Vater“, sagt Verstrynge und zeigt auf ein altes Foto eines bärtigen Mannes, der mit Robespierre im Bilderrahmen steckt. „Ich war 12. Seine Ideen standen meinen diametral entgegen“, erinnert sich Verstrynge an seine Kindheit.

Der neue Vater, der von der Frankreich nach Marokko verbannt worden war, unterstützte die Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien. Und er war für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. „Hier begann die Dualität: Politisch war ich weiterhin dafür, dass das französische Kolonialreich bestehen bleibt; gleichzeitig fing ich an zu denken, dass die Banken, die Versicherungen und große Infrastrukturen verstaatlicht werden müssen. Letzteres glaube ich bis heute“, sagt er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „In Sachen Unabhängigkeit brauchten wir lange, bis wir merkten, das der Alte recht hatte.“ Heute bewundert Verstrynge De Gaulle als „eines großen Staatsmannes“.

Auch die Familie Verstrynge ging. Der junge Jorge, der spanisch mit französischen Akzent sprach, kam nach Madrid. Er erinnere sich „vor allem an die Ruhe, die Sicherheit.“ Das beeindruckte den Heranwachsenden, der im algerischen Oran miterleben musste, wie seine Familie und deren französischen Nachbarn Zettel mit der Aufschrift „Koffer oder Sarg“ fanden. „Natürlich hatte die Sicherheit in Spanien einen Preis: Du musstest den Mund halten.“

Verstrynges Weg in die Politik begann an der Universität. Es war nicht die Linke, die es im antat sondern sein Professor Manuel Fraga. Im einstigen Informationsminister der Francos und erste Innenminister nach dem Tod des Diktators 1975 sah der junge Verstrynge einen Reformer „eine Art spanischer De Gaulle“. „Ich hatte mich getäuscht“, weiss er heute. Fraga sollte nicht der Motor der Modernisierung Spaniens werden. Verstrynge wurde Generalsekretär in Fragas Alianza Popular. Es sind jene Zeit, die ihm bis heute so mancher nicht verziehen will. „Ich hatte die Aufgabe radikale Erklärungen abzugeben, wenn Fraga politisch vorsichtig sein wollte“, sagt Verstrynge und lächelt dabei.

Es war ausgerechnet eine dieser öffentlichen Statement, die zum Bruch mit Fraga und der AP führten. „Ich verurteilte die Bombardierung von Tripolis 1986 durch die USA“, erinnert sich Verstrynge. Die erste Reaktion war ein Lob durch die Kommunisten, die zweite ein empörter Fraga. Es war der Beginn einer Reihe von Meinungsverschiedenheiten, die schließlich zum Bruch führten. „Ich bin in Nordafrika geboren, was hat er von mir erwartet“, fragt Verstrynge.

Auch für der Austritt aus der sozialistischen PSOE, wo er seine neue politische Heimat fand, kam nach einem Militäreinsatz. „Ich verurteilte den Angriff der USA und der Nato auf Serbien und verließ die Partei“, erinnert sich Verstrynge. „Die Kommunisten haben um mich geworben, aber ich habe abgelehnt. Ich halte nichts von Religion auch nicht von weltlichen“, lautete seine Begründung.

Fortan trat er keiner Partei mehr bei und ging zurück an die Universität. Sein Werk „Der periphere Krieg und der revolutionäre Islam“ über den asymmetrischen Krieg sollte zum Bestseller werden; nicht in Spanien, sondern in Venezuela. Hugo Chávez ließ 30.000 Exemplare drucken und an die Soldaten des Landes verteilen. „Das brachte mir ein Einreiseverbot in die USA ein“, sagt Verstrynge. Es stört ihn nicht weiter, denn die USA mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten ist für ihn die Schlimmste aller kapitalistischen Gesellschaften.

Trotz seiner Nähe zu Podemos strebt Verstrynge kein politisches Amt mehr an. Dies sei Aufgabe einer neuen, jungen Generation. „Berater, oder Mitglied einer Studiengruppe für Wirtschaftspolitik“, könnte er sich vorstellen. Mehr jedoch nicht. Verstrynge weiss, dass er für viele mit seiner Vergangenheit ein schwer zu verdauender Brocken ist. „Ich will dem Projekt von Pablo ja nicht schaden. Ich hoffe, dass er erreicht, was mir nicht geglückt ist“, erklärt er ganz im Tone eines gütigen Vaters. „Meine Generation ist ein Desaster. Alles was wir gemacht haben ist ein Desaster. Spanien sollte ein sozialer Rechtsstaat werden und ist heute keines von beidem“, sagt er zum Abschied.

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