„Sie zementieren die Spaltung Tunesiens“, sagt ein an die Absperrung gelehnter Mann und schüttelt den Kopf. Der Mittelstreifen der Avenue Bourguiba, die Hauptstraße von Tunis, ist mit Polizeigittern eingezäunt. Alle paar hundert Meter steht eine Hundertschaft mit Schilder, Helmen, Schlagstöcken, Tränengasgewehren und echten MPs. Alle Seitenstraßen sind von der Polizisten besetzt. Ein Hubschrauber kreist ständig über dem Stadtzentrum.
„Sie trennen die säkularen Parteien von den Islamisten“, erklärt der Mann, was er mit seiner Bemerkung meint. Noch im vergangenen Jahr war das Fest zum Jahrestag des 14. Januar 2011, als die Tunesier Diktator Zine El Abidine Ben Ali aus dem Amt jagten, voller kultureller Veranstaltungen. Künstler stellten aus. Musiker spielten.
Nicht so in diesem Jahr. Auf der einen Seite des geteilten Boulevards demonstrieren Gewerkschafter und linke Parteien. Sie verlangen eine säkulare Republik und die Aufklärung der radikalen Islamisten zugeschriebenen Morde an zwei Linkspolitikern im Februar und Juli vergangenen Jahres, die das Land in eine Tiefe Krise stürzte.
Die andere Seite gehört den Anhängern der islamistischen Partei Ennahda, die erst vor wenigen Tagen auf Druck der Opposition die Regierung dem Unabhängigen Mehdi Jomaa überließ, damit dieser ein Technokratenkabinett ernennt. Außerdem hat die sogenannte Liga zum Schutz der Revolution – eine radikalen Islamistentruppe mit Milizcharakter – eine Lautsprecheranlage aufgebaut. Zwischen religiösen Gesängen ist unermüdlich von Erneuerung und religiösen Werten und vom Kampf gegen die alten Seilschaften die Rede. Nur eines haben beide Seiten gemein: Die Nationalhymne, die sie immer wieder anstimmen.
Überall promenieren Familien mit Tunesienfähnchen und unterschiedlichen Parteiemblemen. Ungestört der vom Innenministerium verordneten Aufteilung in zwei Lager, mischen sie sich Poppkorn und Gebäck essend .
Die Revolution riecht nicht nach Jasmin. Es stinkt verwest und verbrannt. Seit Tagen streikt die Müllabfuhr und die Straßenreinigung in Tunis. Überall türmen sich Müllsäcke und zeugen von einem der vielen sozialen Konflikten, die dieser Tage das Land erschüttern. Überall in den Provinzen und selbst in Vororten von Tunis kommt es immer wieder zu teils gewalttätigen Protesten. Auslöser war die Erhöhung der KFZ-Steuer für Landwirte und Sammeltaxen. Diese wurden zwar zurückgenommen, aber die Proteste gehen weiter. In der Banlieu von Tunis kam es gar zu einem Toten.
„Es hat sich nicht geändert, wir stecken ganz tief in der Scheiße“, beschwert sich Badr Sassi. Der 28-jährige, arbeitslose Religionslehrer und „dennoch Kommunist“ – so seine stolze Selbstdefinition – läuft durch die Menschenmenge. In der einen Hand hält er ein Baguette in der anderen eine Münze. „Fehlende Arbeit und Korruption“, will er damit zum Ausdruck bringen. Er ist von allen Parteien enttäuscht. „Wenn das sich nicht ändert, wird es immer wieder zu Gewaltausbrüchen kommen“, mischt sich sein Kumpel Ali Hakib ebenfalls 28, arbeitslos und Topograf ein. Die beiden schimpfen über die ständig zunehmende Arbeitslosigkeit und steigende Preise. „Wir haben hier keine Zukunft“, sind sie sich sicher. Sie haben sich bei der säkularen Demonstration, die – wie einst am 14. Januar 2011 vom Sitz der Gewerkschaft UGTT loszog – angeschlossen.
Ein dritter Zug kommt aus der Gegenrichtung. Es sind die Angehörigen der „Märtyrer der Revolution“. „Mein Bruder Hassan wurde von der Polizei zwei Tage vor dem Sturz Ben Alis erschossen, und bis heute kam es zu keinen Gerichtsverfahren“, erklärt Fathia Arfaoui, warum sie aus der Bergarbeiterregion Gafsa im Süden angereist ist. 112 Familien der insgesamt 317 Todesopfer sind nach Tunis gekommen. „Nur fünf Verfahren wurden bisher abgeschlossen und die Schuldigen verurteilt“, beschwert sich der Opferanwalt Charfedinne El Kellil. Selbst die Entschädigung von umgerechnet 10.000 Euro wurden bisher an die betroffenen Familien nicht ausgezahlt. „Das Gericht hält sie zurück, bis zum Ende der Verfahren“, erklärt er. Die Untersuchungen laufen, da es sich bei den Tätern um Polizisten handelt, vor Militärgerichten. Und die haben es nicht eilig. „Wenn wir hier kein Recht bekommen, werden wir vor den Internationalen Strafgerichtshof ziehen“, sagt der Anwalt. Um ihn herum schreien sie „Gegen das Vergessen!“ Dabei ist die Revolution erst drei Jahre alt.