© 2013 Reiner Wandler

Geraubt, gesucht, gefunden

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„29 Jahre“, stammelt María Luisa Torres nur. Heulend schliesst sie Pilar Alcalde in die Arme: „Meine Tochter“ – „Mama“… Das war am 30. Juni 2011 live im Mittagsprogramm des spanischen Privatsenders Antena 3. „Wenn ich die Aufnahmen sehe, bekomme ich noch immer weiche Knie“, sagt Torres und strahl dabei übers ganze Gesicht. „29 Jahre, seit ihre Geburt am 31. März 1982 hatte ich meine Tochter gesucht“, setzt Torres erneut an.

Sheila sollte das Mädchen heißen, doch sie wurde zu Pilar. Denn das Baby wurde in einer Klinik in Madrid vom Kreissaal weg gestohlen. María Luisa Torres ist eines von geschätzten 300.000 Opfern eines verbrecherischen Netzwerkes aus Ärzten und Schwestern, die während der Franco-Diktatur und den ersten Jahren der Demokratie sozialschwachen Frauen ihr Neugeborenes entwendeten und an solvente, kinderlose Familien aus aller Welt vrkauften. Den neuen Eltern wurde erzählt, dass die Mütter Drogenprobleme hätten oder auf den Strich gingen und deshalb ihre Kleinen verlassen hätten. Der erhobene Betrag, der sich umgerechnet auf tausende von Euros belief, seien die Kosten für Geburt und Nachbehandlung.

Als eine der ersten Betroffenen fand Torres ihr gestohlenes Kind wieder. Seither kämpft sie um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Als erstes Opfer erstattete sie vor einem Jahr Anzeige gegen die Schlüsselfiguren des Netzwerkes in Madrid, die Nonne María Gómez Valbuena. Über 1.000 Fälle wurden mittlerweile in ganz Spanien zur Anzeige gebracht. Das Justizministerium will jetzt eine Gendatenbank einrichgten, um die richterlice Aufarbeitung der Fälle zu erleichtern.

„Ich werde dieses Gesicht nie vergessen“, sagt Torres mit ernster Stimme und dunklem Blick. „Das Treffen mit der Nonne sollte mein gesamtes Leben verändern“, erzählt die heute 55-jährige Altenpflegerin aus dem Arbeiterstadtteil Villaverde, im Süden der spanischen Hauptstadt. Ihr vom Leben gezeichneten aber dennoch lebendiges Gesicht verhärtet sich. Es fällt ihr nicht leicht, an damals zu denken.

Alles begann 1981. Torres war gerade einmal 24 Jahre alt, als ihre Ehe nach nur fünf Jahren scheiterte. Bald fand die Mutter einer kleinen Tochter mit Namen Inés einen neuen Freund und wurde ungewollt wieder schwanger. „Da eröffnete er mir, dass er eine andere feste Beziehung habe und mich verlassen würde.“ Gebrochen, enttäuscht und hilflos blieb Torres zurück. Nur eines war der werdenden Mutter, die sich als Kellnerin in einer Kneipe ihrer Familie ihr Brot verdiente, klar: „Ich wollte das Kind haben. Doch wie, als alleinstehende Mutter im damals so traditionellen Spanien?“ Sie weihte nur ihre Mutter ein.

Eine Anzeige in einer Zeitschrift versprach Hilfe in solchen Fällen. Der Text stammte von Schwester María Gómez Valbuena. „Ich besuchte sie, als ich im fünften Monat war“, erinnert sich Torres. Die Nonne schien tatsächlich helfen zu wollen und helfen zu können. „Ruhig und mit angenehmer Stimme“ sprach sie von einem Kindergarten mit Übernachtungsmöglichkeiten, in dem die künftige Mutter ihr Kind die Woche überlassen könne, wenn sie zur Arbeit müsse. „Das sei zwar mit Kosten verbunden, aber das schreckte mich nicht ab. Ich arbeite seit ich 15 bin“, sagt Torres. Die Nonnen hatte auch eine gute Geburtsklinik zur Hand – Santa Cristina in Madrid, das Krankenhaus der staatlichen Hebammenschule. Zum Schluss gab ihr die Nonne eine Visitenkarte. „Mit der sollte ich mich in der Klinik an einer kleinen schwarzen Tür melden, sobald es soweit war“, berichtet Torres.

Torres nippt nachdenklich an ihrem Kaffee. Sie hat einen abgelegenen Tisch in einer Kneipe gegenüber dem Altenheim im Süden Madrids, in dem sie arbeitet, für das Treffen ausgesucht. Zu Hause empfange sie schon lange keine Presse mehr. „Ich will die Intimsphäre meiner anderen beiden Töchter waren“, erklärt sie. Inés kam wo Jahre vor Pilar auf die Welt und Marina sechs Jahre später, als Torres wieder zu dem Mann zurückgekehrt war, von dem sie sich einst getrennt hatte.

Nach einer kurzen Pause, kommt sie auf damals zurück. „Als fünf Monate später die Wehen einsetzten stieg ich mit meiner Mutter in ein Taxi. Es schneite an jenem Tag, das werde ich nie vergessen“, sagt Torres und senkt den Blick. Schnell fand sie die kleine, schwarze Tür. Sie gehörte zu einem unscheinbaren Nebeneingang der Klinik Santa Cristina in O’Donell, einer der meistbefahrenen Straßen des Madrider Stadtzentrums. Dahinter begann der Albtraum, der so oder so ähnlich von vielen anderen Frauen bestätigt wird.

Die Tür führte zu einer Treppe. „Meine Mutter musste unten bleiben. Mich brachten sie hinauf in einem großen Saal, mit rund einem Dutzend Betten mit Frauen, die in den Wehen lagen.“ Heute weiß Torres, dass es ein eigens für soziale Problemfälle eingerichteter Kreissaal war. Ihr wurde ein Bett zugewiesen. An viel mehr kann sie sich nicht mehr erinnern. Sie wurde mit Gas aus einer Maske ruhig gestellt. Ab dann sind alles nur noch vage Bilder, Schlaglichter wie aus eine Horrofilm.

Irgendjemand gab ihr ein Formular zum Unterschreiben. Sie hörte weit entfernt irgendwas von Kostenübernahme. „Dann versetzten sie mich in Vollnarkose“. Als sie wieder zu sich kam, stand Schwester María vor ihr. „‚Und mein Kind?‘ wollte ich wissen.“ – „Was für ein Kind, du hast nichts gehabt“, kam die Antwort. „Ich erinnere mich, wie ich immer wieder nachfragte“, erzählt Torres. Die Ausflüchte wurden von Mal zu Mal bizarrer. „Totgeburt“ – „Ein Paar aus Frankreich hat das Baby adoptiert“ – „Das ist besser so für Dich. Was willst Du denn als alleinstehende Mutter machen“ – „Ich werde dir das Kind nicht geben“ … Die von Geburt und Narkose geschächte, junge Frau nahm alle ihr verbleibenden Kräfte zusammen und stand auf. „Irgendwann stand ich vor einer Glasscheibe. Dahinter die Bettchen. Nur eines war belegt. In ihm lag ein Kind mit blauen Augen und hellem Haar. María stand auf einem Schildchen. Das war mein Kind, mein Kind“ – eine starke Hand packte sie am Arm und zwang sie zurück ins Bett.

Es war wieder Schwester María, die jetzt ihre Taktik änderte: „Ich zeige dich wegen ausserehelicher Beziehungen an. Dann nehmen sie Dir auch noch die andere weg.“ Ein Frau von schlechtem Ruf? Angst und Panik überfiel Torres, angesichts der Drohung auch noch Inés zu verlieren. Die junge Frau brach regelrecht in sich zusammen. Es war das Spanien Anfang der 1980er Jahre. Die Demokratie setzte sich mühsam gegen die Strukturen der Diktatur durch. Das Recht auf Scheidung war gerade eingeführt worden, doch viele der Gesetze, die Frauen entmündigten, waren noch immer in Kraft. Und vor allem die Mentalität der Menschen änderte sich nur sehr langsam. „Neun Tage später verließ ich die Klinik mit dem leeren Wollsäckchen, das ich für das Baby mitgebracht hatte. Mir kam ein Paar mit einer rosa Babykörbchen entgegen. Ich habe immer gedacht, dass die mein Kind abgeholt haben.“ Es sind die letzten Erinnerungen an jenes Drama.

„Die Angst hielt lange an“, sagt Torres überraschend gefasst. Dutzende Male hat sie all das bereits erzählt. Auf jede Nachfrage hat sie sofort die passende Antwort parat. All die Jahre weihte sie nur wenigen Freunden und Angehörigen in das ein, was ihr in jener Nacht in der Klinik widerfahren war. Ihr Vater erfuhr bis zu seinem Tod vor acht Jahren nichts von der Schwangerschaft und allem was anschließend geschah. Ihrer ältesten Tochter Inés erzählte sie von ihrem Leid erst kurz vor deren Volljährigkeit. Es waren lange Jahre der Verzweiflung. „Kein Tag verging, an dem ich nicht an Sheila dachte. Ich schaute jedem Mädchen hinterher, das ungefähr ihr Alter hatte, in der Hoffnung, sie zu finden.“

Die Suche nach Sheila begann als Inés volljährig wurde. Mit Hilfe ihrer Ältesten suchte Torres in Archiven, im Register und der Klinik. Aber es war einer dieser Zufälle in einer vernetzten Welt, die letztlich Mutter und Tochter zusammenführten. Inés veröffentlchte vor drei jahren einen Artikel über das Schicksal ihrer Mutter in einer der großen Tageszeitungen Spaniens. Torres selbst war mittlerweile einer Vereinigung von Kindsraubopfern beigetreten. „Ich hatte immer gedacht, ich sei ein Einzelfall und plötzlich merkte ich, das es viele Frauen mit dem gleichen Schicksal gab“, erklärt Torres. Auf der Facebookseite veröffentlichte sie alles, was sie über die verlorene Tochter beisteuern konnte. Geburtsdatum, Klinik, Allergien und andere Merkmale, die sich in ihrer Familie von Generation zu Generation weitervererben.

Eine Redakteurin des Nachmittagsprogramms bei Antena 3 stieß auf den Artikel und die Facebookseite und erinnerte sich an den Fall einer jungen Frau, die nach der Scheidung ihrer Adoptiveltern live im Fernsehen ihre leibliche Mutter gesucht hatte. Viele Angaben stimmten überein. Ein DNA-Test brachte Gewissheit und führte schließlich zum Wiedersehen an jenem brühend heißen Donnerstagnachmittag.

„Ich habe immer gedacht, dass Sheila ganz nahe ist und dass ich sie irgendwann finden werde“, erklärt Torres. Tatsächlich lebte Pilar wie sie heute heisst, die ganzen Jahre nur 30 Kilometer entfernt. „Mutterinstinkt“, fügt Torres glücklich hinzu. Aus einer Mappe, die sie die ganze Zeit vor sich liegen hatte, kramt sie Fotos. Sie zeigen Pilar in verschiedenen Lebensabschnitten, wie sie spielt, wie sie vor der Kamera posiert, wie sie den Urlaub mit ihrer Adoptivfamilie geniest. Bilder einer Kindheit und Jugend, die Torres nicht miterleben durfte. „Heute sehe ich sie fast jede Wochenende“, sagt Torres glücklich. Pilar sei auf der Suche nach Normalität. „Deshalb redet sie nicht mehr mit der Presse“, erklärt Torres, warum sie alleine gekommen ist. Für Torres selbst ist das anders. Für sie ist der Kampf für Gerechtigkeit, immer wieder anklagen und berichten, zur Therapie geworden.

Gerechtigkeit ist Mutter María Luisa und Tochter Pilar bis heute nicht widerfahren. Schwester María schied im Januar 2013 im Alter von 87 Jahren aus dieser Welt. „Ich wusste, dass das passieren konnte und habe jede Nacht dafür gebetet, dass sie nicht stirbt“, sagt Torres mit leicht wütender Stimme. „Sie war ein schlechter Mensch bis zum Schluss. Sie ist gestorben ohne uns zumindest die Gewissheit zu geben, dass Recht gesprochen wird für all das Leiden, das sie uns zugefügt hat, als sie uns die Kinder stahl“, schimpft das Opfer der Verstorbenen. Nachdem der zuständige Richter das Verfahren einstellen wollte, legte sie Widerspruch ein. María Luisa Torres und Pilar Alcalde werden ihre Anzeige jetzt auf weitere ehemalige Bedienstete der Klinik ausweiten.

Was bisher geschah: