© 2013 Reiner Wandler

Kataloniens Insel

„Schau hier“, sagt Josep Manel Ximenis und legt seinen Finger in eine kleine kaum wahrnehmbare Kerbe in dem großen Granitblock. „Es ist ein X. Das hat mir der Künstler als kleines Detail gewidmet“, fügt der 50-jährige stolz hinzu. Der Felsbrocken ist Teil eines Denkmals für die Unabhängigkeit Kataloniens. Es steht am Ortseingang in Arenys de Munt. Ximenis ist der Bürgermeister des 8.500-Seelen-Ortes 50 Kilometer nördlich von Barcelona, das sich in Folge einer Volksbefragung im September 2009 zur „unabhängigen, katalanischen Gemeinde“ erklärt hat.

„Ich stand dem Volksbefragungskomitee vor“, erzählt Ximenis, Linksnationalist aus den Reihen der Kandidatur der Volkseinheit (CUP). Arenys de Munt, für das sich bis dahin die Presse nur interessierte, wenn die ungeteerte Hauptstraße in einem Flussbett, sich hin und wieder durch starke Regenfälle in das verwandelt, was sie eigentlich ist, wurde durch die Abstimmung zum Symbol für die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien, und mit der Gemeinde ihr stolzer Bürgermeister. Die selbstorgansierte Volksbefragung war die Geburtsstunde einer Bewegung. Es folgten weitere 554 der 947 katalanischen Gemeinden. „Insgesamt stimmten über eine Million Katalanen für die Unabhängigkeit“, weiß Ximenis, der morgens in einer Bank arbeitet und mittags im mit katalanischen Fahnen geschmückten Rathaus residiert.
„Die Abstimmungen waren der entscheidenden Anstoß für das schnelle Wachsen der Unabhängigkeitsbewegung“, ist er sich sicher. Zwei Millionen Menschen versammelten sich am vergangenen 11. September, der katalanischen Nationalfeiertag in Barcelona und forderten die Loslösung von Spanien. Selbst die regierenden konservativen Nationalisten Artur Mas und seiner CiU unterstützen das Anliegen mittlerweile und suchen nach dem Weg ein in der spanischen Verfassung nicht vorgesehenes Referendum über die Zukunft Kataloniens einzuleiten.

Spätestens 2014 soll es soweit sein, egal was Madrid dazu sagt. Das Datum ist kein Zufall, denn am 11. September 2014 jährt sich zum 300. Mal die Niederlage der Regionen an Spaniens Mittelmeerküste im Erbfolgekrieg. Seither sind ist die Dynastie der Bourbonen von König Juan Carlos auf den spanischen Thron. Das Land wurde mit einigen kurzen Unterbrechungen bis zum Ende der Franco-Diktatur 1975 zum Zentralstaat nach französischen Vorbild. Katalonien verlor seine Selbständigkeit.

„Selbst unsere Namen haben sie vereinheitlicht“, beschwert sich Ximenis. In seinem Pass steht Jiménez. Zwar bedeuten die beiden Namen das Gleiche, doch sei Ximenis die Version, die sich aus dem französischen Okzetanien kommend in Katalonien verbreitet habe, während Jiménez die südspanische Variante sei. Mehrmals hat der Bürgermeister versucht seinen Nachnamen im Register zu ändern, vergeblich. So steht auf der Web der Gemeindeverwaltung Jiménez, während der Gemeindechef sich mit Ximenis anreden lässt und unterschreibt.

Arenys de Munt ist eine Insel in Katalonien. Hier gewinnen seit der Rückkehr Spaniens zur Demokratie in der zweiten Häfte der 1970er Jahren immer die Parteien der Unabhängigkeitsbewegung. Zuerst war es die Republikanische Linke Kataloniens (ERC) und seit 2007 die CUP. 41 Prozent gingen 2009 zu Abstimmung über die Unabhängigkeit. 96 Prozent stimmten mit „Ja“. Bei Umfragen im gesamten Katalonien fallen die Zahlen nicht so deutlich aus. Hier ist die Bevölkerung in zwei fast gleichgroße Lager gespalten.

Wenn der Linksnationalist Ximenis den Wunsch nach Unabhängigkeit begründet, ist nicht nur von eigener Kultur und eigener Sprache und deren Unterdrückung die Rede. Immer wieder kommt er auf „die Ausplünderung Kataloniens durch Madrid“ zu sprechen. Katalonien führt – wie andere Reiche Regionen, unter ihnen auch Madrid – mehr Steuern an die Zentralverwaltung ab, als zurückkommen. Zum Teil wird das Geld auf ärmere Regionen umverteilt. Ximenis stört dies. „In Folge der Krise wird in Katalonien überall gekürzt und gespart“, beschwert er sich und verlangt, „dass jeder arbeitet, um seine eigenen Probleme zu lösen.“

Ein neues Automomiestatut – per Volksabstimmung angenommen – sollte die Steuerumverteilung weitgehend beenden. Das Verfassungsgericht akzeptierte dies 2010 nicht. Im vergangenen Jahr machte die hochverschuldete Autonomieregierung einen erneuten Vorstoß, um alle Steuern selbst einzutreiben. Die konservative Regierung von Mariano Rajoy in Madrid lehnte ab. Der katalanische Regierungschef Mas rief zu Neuwahlen und versprach sein Katalonien in die Unabhängigkeit zu führen.

Das Argument, die Unabhängigkeit sei der Ausweg aus der Finanzkrise, wie es Ximenis und andere Linksnationalisten vertreten, kommt an. Überall in Arenys de Munt hängt die katalanische gelb-rot-gestreifte Fahne mit zusätzlichem weißen Stern auf blauem Grund, das Symbol der Unabhängigkeitsbewegung. Die Menschen im Ort lebten einst von Landwirtschaft und Textil. Heute verdienen sie ihr Geld in den Unternehmen im Großraum Barcelona. Eine Autobahn verbindet Arenys de Munt mit der katalanischen Hauptstadt. Und auch sie gibt Anlass zum Schimpfen. Denn sie ist gebührenpflichtig, während in Südspanien kostenlose Schnellstraßen gebaut wurden.

„Es ist immer das gleiche. Wir Katalanen sollen zahlen und den Mund halten“, beschwert sich Jaume Misse. Jetzt wo der Zentralstaat die Regionen zur Senkung des Defizits zwingt, sei es „schlimmer als unter Diktator Franco“, sagt der 68-jährige stellvertretender Vorsitzende des örtlichen Fanclubs des FC Barcelona.

Er und sein Freund und Vereinsbruder Julio Arnán empfangen im von der Gemeindeverwaltung zur Verfügung gestellten Lokal des 260 Mitglieder zählenden Fanclubs, dem auch Bürgermeister Ximenis angehört. „Der Barça ist zusammen mit unserer Fahne, das Symbol für Katalonien!“ erklärt Misse stolz. Die beiden Rentner sehen sich und den FC Barcelona als so etwas wie die Avantgarde der katalanischen Bewegung. „Zu Zeiten der Franco-Diktatur konnten wir unsere eigene Kultur und Sprache nicht offen leben. Der FC Barcelona war der einzige Ort, wo wir Katalanen sein konnten“, erklärt Arnán. Das Motto „Barça ist mehr als ein Club“ stammt aus jenen Jahren.

„Sie mögen uns nicht. Sie respektieren uns nicht“, lautet der Satz, den die beiden ständig wiederholen. Sie sind sich einig, dass die Unabhängigkeit bald kommen wird. „Die Krise beschleunigt den Prozess“, sagt Misse. Katalonien sei alleine reich genug, um alle Probleme zu lösen. „Wir wollen keine Sparpolitik, die von Ausländern gemacht wird“, fügt Arnán hinzu und meint damit nicht Kanzlerin Merkel, die EU oder den Internationalen Währungsfond sondern die Politiker in Madrid. „Spanien wird ohne Katalonien zu einem Dritt-Welt-Land“, prophezeit er. „Die haben dann ja nicht einmal einen ordentlichen Zugang zum Mittelmeer.“ Sicher, da seien die Häfen im Süden, „aber dort geht es nach Afrika“.

Sie reden viel von mangelnder Demokratie, von der Korruption in Spanien und von der Sparpolitik, die im Auftrag der Banken gemacht wird. Dass all dies auch die Autonomieregierung in Katalonien betrifft und dass auch sie die neoliberale Politik, die Madrid im Auftrage Brüssels und Berlins umsetzt, mitträgt, ist ihnen bewusst, aber es stört sie weniger: „Es sind Leute von hier, aus unserem Land“, erklärt Arnán, warum.

Auf die Frage, dass bei einem Referndum, falls es denn kommen sollte, wenn überhaupt, nur eine sehr knappe Mehrheit für die Unabhängigkeit sein könnte, und damit fast die Hälfte der Bevölkerung dagegen, müssen die beiden nicht lange überlegen: „Wir werden niemanden rausschmeißen. Aber wem es nicht passt, der kann ja gehen. Die Wege stehen jedem offen“, sagt Arnán mit fester Stimme. Misse stimmt zu.

Natürlich gibt es auch in Arenys de Munt diejenigen, die nichts von der Unabhängigkeit wissen wollen. Zwei der insgesamt 13 Gemeinderäte – der Vertreter der in Madrid regierenden Partido Popular (PP) und die Vertreterin der sozialistischen PSC die mit der spanischen PSOE verbunden ist – sind für ein spanisches Katalonien. „Der von der PP ist zwar Katalane, aber er ist nicht aus dem Dorf. Und die von der PSC ist keine Katalanin“, lautet das Urteil Arnáns und Misses.

Solchen Meinungen machen die sozialistische Gemeinderätin Angels Castillo betroffen. Die 55-jährige Beamtin lebt seit mehr als 40 Jahren in Katalonien, sie versteht sich als Katalanin, spricht perfekt die Landessprache, ihr Mann ist von hier „mit katalanischen Wurzeln, wie die Nationalisten das nennen“, und ihre Kinder sind hier geboren. „Mit ihnen habe ich Katalonien das beste gegeben, was ich habe“, sagt sie.

Es sei nicht leicht in einem Dorf wie Arenys de Munt Politik zu machen, erzählt Castillo dann. „Meine Wähler und Wählerinnen trauen sich nicht offen aufzutreten“, sagt sie. Vor allem wer ein Geschäft hat, oder sonst im öffentlichen Leben steht, würde sich mit seiner Meinung zurückhalten. Die Stimmung im Dorf radikalisiere sich seit der Abstimmung 2009. „Hier ist alles auf Unabhängigkeit ausgerichtet. Es ist doch nicht normal, dass selbst beim Festumzug an Drei König Reden für die Kinder Reden über die Unabhängigkeit gehalten werden“, beschwert sie sich über die Politik der Gemeindeverwaltung von Bürgermeister Ximenis. Nach einer kurzen Pause wird sie dann richtig wütend. „Wie können die sich anmaßen so etwas wie Zeugnisse der guten Katalanität auszustellen“, fragt sie empört.

Angels Castillo kann die Ablehnung, die selbst ihren Kindern in der Schule entgegenschlägt, nicht verstehen. Denn ihre Partei tritt – obwohl sie nicht für die Unabhängigkeit ist – für das Recht der Katalanen auf ein Referendum ein und legt sich damit mit der spanischen PSOE an, die ebenso wie die regierende PP darauf verweisen, dass das laut Verfassung nicht legal sei. „Wer sagt denn, dass die Mehrheit für die Loslösung von Spanien stimmen wird. Selbst hier haben doch nur 40 Prozent teilgenommen“, erklärt sie.

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