© 2013 Reiner Wandler

Tunesien – die Avantgarde

Die Möglichkeit eines Attentates lag in der Luft. Dennoch konnte und wollte es niemand so recht glauben, als vergangenen Mittwoch die Nachricht vom Mord an dem linken Oppositionspolitiker Chokri Belaid kam. Tunesien ist, anders als zum Beispiel der große Nachbar Algerien, nicht an Gewalt gewöhnt. Der Anschlag auf Belaid war erst der zweite politische Mord in der Geschichte des kleinsten, nordafrikanischen Landes. 1952 wurde der Gründer der bis heute mächtigen Gewerkschaft UGTT, Farhat Hached, erschossen. Doch anders als Belaid war er nicht das Opfer eines innertunesischen Konflikts. Er fiel französischen Kugeln zum Opfer.
Dennoch haben beide Morde eines gemeinsam. Die Attentate richten sich gegen das, was die Tunesier so stolz macht. Sie sehen sich als Avantgarde der Modernisierung in der islamisch, arabischen Welt. Tunesien hatte im 19. Jahrhundert die erste Verfassung eines muslimischen Landes und schaffte lange vor seinen Nachbarn die Sklaverei ab. Die UGTT war die erste freie Gewerkschaft Nordafrikas. Und nach der Unabhängigkeit wurde den Tunesierinnen zumindest gesetzlich die Gleichberechtigung eingeräumte. Wen wundert es, dass bei so vielen Pioniertaten der arabische Frühling ebenfalls in Tunesien begann?
Einer der Verfechter dieser Mischung aus nationaler, maghrebinischer Identität und Moderne war der ermordete UGTT-Gründer Hached. Belaid stand Generationen später für die gleiche Tradition.
Tunesien hatte immer, auch in den dunkelsten Jahren der Diktatur des im Januar 2011 gestürzten Ben Ali, eine lebendige Zivilgesellschaft. Oppositionelle wie Belaid waren, trotz erbitterter Verfolgung und völliger offizieller Desinformation, bekannt und beliebt.
Es ist genau diese Zivilgesellschaft, die jetzt den Islamisten die Stirn bietet. Trotz ihres Wahlsieges und ihrer relativen Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung konnte die Regierungspartei Ennahda weder das islamische Recht im Verfassungsentwurf verankern, noch die Frau auf die Definition – „ergänzend zum Manne“ – zurückstufen. Große Protestbewegungen wussten dies zu verhindern. Die Islamisten verfielen angesichts ihrer Ohnmacht der Versuchung mit der Gewalt zu kokettieren und denen freien Lauf zu lassen, die vor Übergriffen auf Einrichtungen der Gewerkschaft und der Opposition und letztendlich auch vor Mord nicht zurückschreckten.
Doch die Rechnung geht nicht auf. Anstatt die Zivilgesellschaft einzuschüchtern, ist sie geeinter denn je. Der riesige Trauerzug, der Belaid zu Grabe trug, belegt dies ebenso, wie der Prozess der Einigung der säkularen Kräfte zu zwei oder drei großen Parteien.
Es wird ein langer Weg zu einer zivilen, demokratischen Republik. Doch trotz der Zuspitzung des Konfliktes in den letzten Tagen – wenn ein Land des arabischen Frühlings den Weg erfolgreich beschreiten kann, dann ist es Tunesien. In Europa sollten wir aufhören immer nur gebannt auf die radikalen Islamisten zu starren. Es gibt positive Zeichen dort auf der anderen Seite des Mittelmeeres, die weiterhin unsere Aufmerksamkeit, unsre Sympathie und unsere Unterstützung verdienen und brauchen.

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