© 2012 Reiner Wandler

Tunesien: Die Angst vor einem islamistischen Winter

Betroffene Gesichter, Kerzen in der Hand … hunderte Gewerkschafter, Künstler, Intellektuelle und einfache Bürger versammelten sich am Dienstag Abend vor dem Lokal der größten Gewerkschaft Tunesiens, der UGTT, auf dem Platz Mohamed Ali im Zentrum von Tunis. Von hier ging die Demonstration aus, die am 14. Januar 2011 den Diktator Ben Ali endgültig aus dem Land trieb. In den Reden, Parolen und Gesängen war wieder viel von ihrem „Frühling der Revolution der Freiheit und Würde“ die Rede. Die Versammelten fürchten um ihre Errungenschaften und warnten vor einem „islamistischer Winter“.

In den letzten Wochen und Monaten kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen auf Büros der UGTT. Immer wieder wurde Müll vor den Lokalen abgeladen, mehrere Gewerkschaftseinrichtungen wurden geplündert und in Brand gesteckt. Zum schlimmsten Übergriff kam es am 4. Dezember auf eben jenem Platz Mohamed Ali. Eine Gedenkveranstaltung für den vor 60 Jahren ermordeten Gewerkschaftsgründer Farhat Hached wurde von Schlägern angegriffen. Es kam zu mehreren, teils Schwerverletzten.
Die Gewaltaktionen gehen auf die Rechnung der „Liga zum Schutz der Revolution“. Diese im Frühsommer gegründete und von der Regierung zugelassenen Vereinigung schreibt sich „die Verteidigung des Geistes der Revolution“ auf die Fahnen. Doch weder ihre Führer, noch ihre Anhänger haben sich, anders als viele derer, die mit ihrer Kerze gekommen waren, bei den Protesten, die zum Sturz Ben Alis führten, hervorgetan.
Der Liga wird außerdem die Verantwortung für einen Übergriff auf eine Veranstaltung der nicht religiös orientierten Partei Nidaa Tounes des einstigen Übergangspremiers Béji Caïd Essebsi im Oktober im südtunesischen Tataouine vorgeworfen. Dabei kam ein örtlicher Politiker ums Leben. Nidaa Tounes ist die einzige Kraft, die Ennahda bei den Wahlen im kommenden Frühjahr besiegen kann.
„Ennahda will das Land spalten“, lautet der Vorwurf des UGTT-Vorstandsmitglieds Tahri. Für ihn und für die vor dem Gewerkschaftshaus Versammelten ist die Liga ein Kind Ennahdas. Indizien dafür gibt es genug. So verteidigte der Ennahda-Vorsitzende Rachid Ghannouchi die Gewalt seitens der Liga vor dem Gewerkschaftshaus in Tunis. Die UGTT habe dort Waffen gebunkert und habe friedliche Bürger angegriffen, lautet seine Interpretation der Vorfälle. Ein unabhängiger Islamist verlangte im Übergangsparlament gar, die Liga als staatliche Institution in der Verfassung, die derzeit ausgearbeitet wird, festzuschreiben. Ein Vorschlag, der viele in Tunesien an den Iran erinnert.
Für die Gewerkschafter und andere Aktivisten der Zivilgesellschaft sind die Übergriffe die Rache der Islamisten für die führende Rolle der Gewerkschaft bei sozialen Protesten. Die UGTT war in den Jahren der Diktatur der wichtigste Zufluchtsort für Dissidenten. Dank der Unterstützung der Revolution geniest die Gewerkschaft ein gutes Ansehen und wurde zum Hauptakteur der Zivilgesellschaft.
Zuletzt unterstützte die Gewerkschaft Demonstrationen gegen die Arbeitslosigkeit und Armut in der zentraltunesischen Stadt Siliana Ende November, die zum Abzug des von Ennahda eingesetzten Zivilgouverneurs führten. Die Polizei reagierte mit seit Ben Alis Sturz nicht dagewesener Gewalt und schoss mit Schrottflinten auf Demonstranten.
„Ihr Ziel ist es, die UGTT zu schwächen, damit sie keine Rolle mehr spielt“, beschwert sich Vorstandsmitglied Sami Tahri übe die Ennahda-Regierung und deren Umfeld. Seine Gewerkschaft fordert die strafrechtliche Verfolgung der Schläger und ein Verbot der Liga. In vier großen Städten rief die UGTT deshalb in den vergangenen Tagen zu regionalen Generalstreik. „Haut ab!“ erklang einmal mehr die Parole, die einst zum Sturz Ben Alis führte, nur dass sie sich dieses Mal an die Dreierkoalition unter Ennahda richtet.
Die UGTT-Führung setzte am Mittwoch Nachmittag einen für Donnerstag geplanten Generalstreik aus.  Zuvor hatte eine Gewerkschaftsdelegation in einem Verhandlungsmarathon mit der Regierung über die angespannte Lage beraten. Dabei sollen sich beide Seiten laut tunesischer Presse auf ein Verbot der Liga geeinigt haben./Foto: UGTT

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