© 2012 Reiner Wandler

Standby oder Warten auf das endgültige Aus?

Bürgermeister José Fernando González sitzt auf einem Scherbenhaufen. Die Kassen seiner kleinen Gemeinde Yeles unweit des spanischen Toledos sind leer. Zentral- und Regionalregierung haben ihre Zahlungen für Schulbusse, Behindertenbetreuung und andere Leistungen eingestellt. Überall stehen halbverrostete Schilder, die große Bauprojekte ankündigen. Doch es finden sich keine Käufer mehr. 500 nagelneue Wohnungen stehen in dem 6.700 -Seelendorf 40 Autominuten vor Madrid – leer. Und jetzt hat die Krise den Hauptarbeitgeber am Ort, das Zementwerk des Schweizer Konzerns Holcim, erwischt. Über 70 Prozent der 102 Arbeiter werden entlassen, die zwei Zementöfen stillgelegt. Im einst integrierten Werk wird künftig nur noch das Vorprodukt Klinker gemahlen und mit Zusatzstoffen gemischt.

„Meine beiden Großväter, mein Vater, vier meiner Onkel, mein Bruder, alle haben wir in der Fabrik gearbeitet. Und jetzt das“, sagt der 49-Jährige, der selbst seit 26 Jahren im Labor der Zementfabrik arbeitet und in der Siedlung gleich neben der Einfahrt des Werkes groß geworden ist. González hat Aufstieg und vor allem den Niedergang „der Fabrik“, wie sie das Werk in Yeles, das Holcim 2003 aufkaufte, kurz und voller Zuneigung nennen, hautnah miterlebt – morgens als Angestellter auf den Betriebsversammlungen und nachmittags als Bürgermeister. In seiner Amtsstube empfing der Lokalpolitiker der konservativen, spanischen Regierungspartei Partido Popular die Verantwortlichen des Werkes in Yeles und den Spanienchef von Holcim, Vicent Lefervre.
„Sie legten mir Zahlen offen, um mich davon zu überzeugen, dass es keine Alternative zur Massenentlassung und Teilstilllegung des Werkes gibt“, berichtet der Laborant. 2007 bis 2011 fiel der Verkauf der Holcimgruppe in Spanien um 63 Prozent. In Yeles produzierte Holcim 2006 rund 700.000 Tonnen Zement. 2012 werden gerade einmal noch 200.000 Tonnen gemahlen. „Ich hätte mir gewünscht, dass sie ein bisschen mehr Verantwortung für das Dorf gezeigt hätten“, meint González dennoch.
Backstein und Zement, einst Symbole des Wohlstandes, sind seit 2008 als die Spekulationsblase im Immobiliensektor, die Spanien über ein Jahrzehnt hohes Wachstum bescherte, das Synonym für eine Krise, die ein ganzes Land in den Abgrund reißt. Zu Hochzeiten des Immobilienbooms verbrauchte die Bauwirtschaft in Spanien 53 Millionen Tonnen Zement. 2012 werden es nach Schätzungen des Verbandes der Zementhersteller Oficem noch 13 Millionen Tonnen sein – so wenig wie seit 1967 nicht mehr. Alleine in den letzten zwölf Monaten ging die Nachfrage nach Zement um 34 Prozent zurück. „Nachbarländer wie Marokko haben einen höheren Zementverbrauch wie Spanien“, heißt es in einer Oficem-Erklärung.
Alle in Yeles kennen diese Zahlen, dennoch fühlen sie sich betrogen. „Holcim war die ganzen Jahre über ein guter Arbeitgeber, kümmerte sich um Arbeitssicherheit und um Investitionen in den Umweltschutz. Wir hatten wirklich nicht erwartet, dass sie eine solche Mentalität an den Tag legen. Sie haben die Zitrone bis zum letzten Tropfen ausgequetscht und gehen jetzt“, beschwert sich Jenaro Rúiz, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender bei Holcim für Spaniens größte Gewerkschaft CCOO und einer derer, die mit am Tisch saßen, als der Sozialplan ausgehandelt wurde. „Die Fabrik in Yeles ist 103 Jahre alt. Ob Wirtschaftskrisen oder Bürgerkrieg, die Menschen hier in Yeles haben sich regelrecht aufgeopfert, um sie am Laufen zu halten. Wir haben das wirklich nicht verdient“, fügt Rúiz hinzu. Er und Bürgermeister González kennen sich seit 21 Jahren. Sie hatten den gleichen Job in „der Fabrik“ auf unterschiedlichen Schichten. „Wir gaben uns Tag für Tag die Tür in die Hand. Der eine kam der andere ging“, sagt Rúiz wehmütig. Mit seinem 58-Jahren wurde er entlassen, lebt vom Arbeitslosengeld und von der Abfindung.
Yeles ist nur Teil eines großen Restrukturierungsplanes bei Holcim Spanien. 295 der 1053 Beschäftigten – 28 Prozent der Belegschaft – im ganzen Land werden bis zum Jahresende entlassen. Die Verwaltung und Verkaufsabteilung wird abgespeckt. Die Stilllegung der zwei Öfen in Yeles ist nicht der einzige tiefe Einschnitt in die Firmenstruktur. In Lorca wurde ein ganzes Werk geschlossen und Dutzende von Fertigbetonwerken ereilt das gleiche Schicksal. Viele dieser Betonwerke waren erst 2008 von Holcim aufgekauft worden.
„Für uns war dies eine klare Fehlentscheidung, die jetzt von der Belegschaft ausgebadet werden muss. Schließlich zeichnete sich da die tiefe Krise im Immobiliensektor bereits damals ab“, erklärt Rúiz. Holcim wollte oder konnte die Zeichen der Zeit nicht sehen.
Kaum hatten die Zürcher den Kaufvertrag für Tarmac unterschrieben begann die rasante Talfahrt der Baubranche in Spanien. Die spanischen Zementhersteller versuchen jetzt auf den Export auszuweichen. So auch Holcim.
Doch das Geschäft auf den Märkten außerhalb Spanien läuft nur schleppend. Denn in den Jahren des Booms wurden diese Kunden sträflich vernachlässigt. Spanien kaufte Zement zu. Export lohnte sich nicht. 1983 wurden laut Oficem 13 Millionen Tonnen exportiert. 2011 werden es gerade einmal 6 Millionen sein.
Holcim verspricht der Restbelegschaft in Yeles immer wieder, die Öfen erneut anzuschmeißen, falls sich die Konjunktur, wie von der Politik prophezeit, ab 2014 erholen sollte. Gewerkschafter Rúiz glaubt das nicht: „Wir haben ein Kurzarbeitsmodell mit Lohnverzicht vorgeschlagen, um die schlechten Jahre zu überbrücken. Holcim hat das abgelehnt“, erklärt er, warum er für das Werk in Yeles keine Zukunft sieht. Rúiz glaubt vielmehr an eine Aufteilung des spanischen Marktes unter den großen Zementherstellern des Landes. „Holcim wird sich auf Südspanien und die Mittelmeerküste zurückziehen. Was für einen Sinn hat es sonst, ausgerechnet ein Werk im Wirtschaftsraum rund um Madrid runterzufahren?“ fragt er.
Es ist nicht das erste Mal, das Verdächtigungen über Kartellabsprachen unter den Zementherstellern laut werden. Vor drei Jahren untersuchten sowohl spanische Behörden als auch die EU die Geschäftsgebaren von Holcim und mehrere Mitkonkurrenten.

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