© 2012 Reiner Wandler

"Unabhängigkeit? Wofür genau?"

Die spanische Presse war sich Sonntagfrüh einig: Katalonien stehe vor „den wichtigsten Wahlen seiner Geschichte“. Denn bei dem Urnengang ging es um mehr als eine neue Regierung. Die Katalanen stimmten auch über die eigene Zukunft und die Spaniens ab.

Artur Mas, aktueller und künftiger Präsident der Autonomieregierung, versprach eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit der nord-ost-spanischen Region in der kommenden Legislaturperiode und gewinnt damit die Wahlen. Zwar büßte seine konservativ-nationalistische Convergència i Unió (CiU) Sitze im neuen Parlament ein, hält zusammen mit anderen, kleineren nationalistische Parteien eine breite Mehrheit im katalanischen Parlament. Die Republikanische Linke Katalkoniens (ERC) verdoppelte ihre Abgeorndetenzahl und wurde erstmals zweitstärkste Kraft. Rechtlich ist eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit nicht möglich, doch der Druck auf Madrid, dies zu ändern, wird zunehmen.

Es ist absehbar, dass in den nächsten Wochen und Monaten genau diese Debatte die innenpolitische Auseinandersetzung in Spanien bestimmen wird. Spaniens konservativer Regierungschef Mariano Rajoy weiß dies. Er warnt vor dem „immensen Schaden für Katalonien und Spanien“, den eine solche Diskussion hervorrufen könne. Spanien steht am Rande des Abgrunds

Der Preis, den das Land für Staatsanleihen bezahlen muss, ist viel zu hoch. Eine Debatte, die die politische Stabilität gefährdet, wird Auswirkungen auf das Vertrauen der Finanzmärkte haben. Mehrere Rating-Agenturen drohen seit Wochen mit Herabstufung auf Ramschniveau

Artur Mas freilich scheint dies nicht zu beunruhigen. Er hat sein Katalonien bereits versenkt. Fünf Milliarden Euro aus Madrid retten Katalonien vor der Zahlungsunfähigkeit. Zu den Finanzmärkten hat die Regierung in Barcelona schon länger keinen Zugang mehr, um sich mit frischem Geld zu versorgen

„Unabhängigkeit? Wofür genau?“, fragte vor Auftakt des Wahlkampfes der Philosophieprofessor aus Barcelona Manuel Cruz in der größten Tageszeitung Spaniens El País. „Wie kann es sein, dass diese Vertreter der Unabhängigkeit zu keinem Zeitpunkt planen, was für eine Gesellschaft sie anstreben, sobald sie ihr Ziel erreichen, und stattdessen erklären, dass unsere Probleme gelöst wären, sobald wir uns von Madrid los sagen?“ wundert er sich

Die Rezepte der Regierung Mas zur Krisenbewältigung unterscheiden sich nicht von denen der Konservativen in Madrid. Er setzt ausschließlich auf harte Kürzungen im Sozialsystem und im Öffentlichen Dienst. Der Ruf nach Unabhängigkeit machte im Wahlkampf mit Erfolg diese Politik weitgehend vergessen. Doch die Realität dürfte Mas bald schon wieder einholen. Soziale Proteste sind auch in Katalonien an der Tagesordnung, und selbst im eigenen Lager hat Mas nicht alle hinter sich. Vor allem katalanische Wirtschaftskreise warnen vor Experimenten, die Kataloniens Industrie nicht nur vom spanischen, sondern auch vom europäischen Markt abschneiden könnten. Schnell wird er merken, dass er aus seinen vorgezogenen Neuwahlen geschwächt hervorgeht und künftig in der Hand radikaler Separatisten ist.

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