© 2012 Reiner Wandler

Tunesien: Zwischen Islamismus und Moderne

Feierstimmung sieht anders aus. Ein Jahr nach den ersten freien Wahlen in Tunesien am 23. Oktober 2011 gingen die Gegner der Übergangsregierung zu Tausenden auf die Straße, während nur ein paar Hundert fähnchenschwingende Islamisten Grund zur Freude sahen. Der Feierstunde im Parlament, das die Verfassung für die neue Ära ausarbeitet, blieben die meisten Oppositionspolitiker fern. Tunesien ist tief gespalten, die Regierung aus der islamistischen Ennahda und zwei kleineren, weltlichen Parteien ist am Tiefpunkt ihrer Popularität angelangt.

„Das Volks will den Sturz des Regimes“ skandierten die Demonstranten die Parole, mit der sie im Januar 2011 den Sturz des Diktators Ben Ali einleiteten. Für die Opposition ist die Regierung seit dem Jahrestag „unrechtmäßig“. Denn die Dreiparteienkoalition hat sich eigentlich versprochen nur ein Jahr im Amt zu bleiben. Jetzt wollen Premierminister Hamadi Jebali von Ennahda, Staatspräsident Moncef Marzouki (Kongress für die Republik) und Parlamentspräsident Mustapha Ben Jaafar (Ettakatol) davon nicht mehr wissen. Der Termin für Neuwahlen wurde auf den 27. Juni festgelegt. Die Verfassungsgebende Versammlung habe ihre Arbeit noch nicht beendet, lautet die Begründung. Die wichtigste offene Frage ist die nach der Staatsform: Ennahda hätte gerne ein rein parlamentarisches System, bei der die stärkste Partei den Regierungschef und Staatschef stellt. Die restlichen Parteien wollen eine Direktwahl des Präsidenten.
Die Opposition befürchtet, dass die Islamisten die Zeit nutzen werden, um alle wichtigen Institutionen fest in ihre Hände zu bekommen. Ennahda hat bereits die Führungsposten der Staatsbetriebe sowie der der staatlichen Medien mit ihren Getreuen besetzt. Kritische Journalisten werden zunehmend zensiert. Die Opposition fürchtet ein neues totalitäres Regime und verlangt für die Zeit bis zur Verabschiedung der Verfassung eine Regierung der nationalen Einheit. Die mächtige Gewerkschaft UGTT ruft zum nationalen Dialog und will einen Urnengang noch vor Jahresende.
Es vergeht kaum ein Tag ohne Sit-Ins, Straßenblockaden oder Streiks. Immer wieder wird über einzelne Regionen der Ausnahmezustand verhängt, zuletzt im Urlaubsparadies Djerba und der Chemiestadt Gabès. Amnesty International beklagt Menschenrechtsverletzungen und Folter seitens der Polizei.
Die wirtschaftlicher Lage erholt sich nicht. „Die immer wieder aufflammenden Revolten im Landesinneren beweisen, dass die Beschäftigungssituation – vor allem für junge Menschen – und die regionalen Unterschiede weiterhin ein echtes Problem sind“, erklärt ein Sprecher der Afrikanischen Entwicklungsbank. Das Wachstum sei weit niedriger als von der Regierung angegeben. Der Tourismus, eine der Haupteinnahmequelle, steckt weiterhin in der Krise. Das Haushaltsdefizit und die Außenhandelsbilanz verschlechtern sich zunehmend.
Radikale Salafisten nutzen die Unzufriedenheit und machen mit gewalttätigen Übergriffe auf Kneipen, die Alkohol ausschenken, sowie auf Kunstausstellungen, Universitäten und zuletzt auf die US-Botschaft in Tunis von sich reden.
Ennahda distanziert sich nur zögerlich. Vor wenigen Tagen wurden Filmaufnahmen von einem Treffen von Parteichef Rachid Ghannouchi mit führenden Salafisten bekannt. Ghannouchi mahnt die Radikalen zur „Geduld, beim Erreichen eurer Ziele“. Er fordert sie auf, eigene Fernseh- und Radiosender zu gründen, um so den weltlichen Journalisten, die noch immer die Medien bestimmen“, die Stirn zu bieten.
75 der 217 Abgeordneten der Verfassunggebenden Versammlung forderten daraufhin in einem gemeinsamen Kommuniqué den Rücktritt der Regierung und das Verbot von Ennahda.
Foto: Wahlkampfveranstaltung von Ennahda 2011

Was bisher geschah: