Interview mit Jon Aguirre. Der 27-jährige Architekt ist einer der Initiatoren von „Echte Demokratie Jetzt!“, die mit ihrem Aufruf am 15. Mai 2011 erstmals Hunderttausende auf Spaniens Straßen mobilisierte. Es war der Ausgangspunkt der Bewegung der Empörten, der Bewegung 15-M.
Als am 15. Mai 2011 erstmals die „Empörten“ auf die Straße gingen, hätten Sie da gedacht, dass Spanien ein Jahr später am Abgrund steht?
Nein. Wir dachten damals, dass wir uns in der schlimmsten Lage befanden, die vorstellbar war. Die damalige sozialistische Regierung hatte das Rentenalter hochgesetzt, Sozialleistungen und Löhne im öffentlichen Dienst gekürzt. Heute wissen wir, das war nur der Anfang. Seither geht es ununterbrochen bergab. Das liegt nicht zuletzt an der hochgradig neoliberalen Politik mit der auf die Krise reagiert wird. Die alte, sozialistische und die neue konservative Regierung setzen ausschließlich auf Haushaltsdisziplin, auf die Ausplünderung aller öffentlichen Dienste und Unternehmen … Das Ergebnis spricht für sich. Ein Blick nach Lateinamerika zeigt, wohin das führen kann, zu einem Corralito wie einst in Argentinien. Es ist traurig, aber wir sind bei weitem noch nicht ganz unten angekommen.
Wird Spanien aus dem Euro ausscheiden?
Keine Ahnung. Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler.
Andersherum: Ist es wünschenswert, dass Spanien im Euro bleibt?
Dazu gibt es unterschiedliche Analysen. Was allerdings klar ist, die Rahmenbedingungen, die Maastricht und Lissabon für den Euro stecken, begünstigen im höchsten Maße die Spekulation. Die Staaten müssen sich bei privaten Geldinstituten, mit Krediten versorgen. Dadurch entsteht überhaupt erst die Spekulation mit den Staatsanleihen. Die Europäische Zentralbank übernimmt nicht die Aufgaben, die einer Zentralbank zukommen. Statt Geld an die Staaten zu verleihen, gibt sie Billionenbeträge zu günstigen Bedienungen an private Banken. Diese spekulieren dann, und verleihen dieses Geld für 6, 10 oder 20 Prozent weiter, je nach Land und Risikozuschlag. Deutschland besteht auf diesem Modell für die Europäische Zentralbank und fährt gut damit. Berlin nimmt Staatsanleihen für null Prozent auf. Doch die Frage ist längst nicht mehr ob es Deutschland gut und Spanien schlecht geht. Wir befinden uns in einer globalisierten Welt. Das ganze System steckt in der Krise. Es ist nicht mehr tragbar.
Was heißt das?
Angesichts der Finanzkrise redet niemand mehr von der ökologischen Krise und von der Energiekrise. Wir haben die Grenzen des Planeten längst überschritten. Die Art wie wir leben und konsumieren ist nicht haltbar. Spanien verbraucht in nur drei Monaten seine gesamte biologische Kapazität eines Jahres. Wir können so nicht weitermachen. Das ist die eigentliche Krise.
Glauben Sie, dass die Wahl von François Hollande an der europäischen Politik etwas ändern wird?
Er macht viele Absichtserklärungen. Wir werden sehen, was daraus wird. Ich persönlich habe jedwedes Vertrauen in die Sozialdemokratie verloren. Ich glaube, dass radikalere Ansätze nötig sind. Wir brauchen neue politische Strukturen. Die Bürger müssen eine aktivere Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen. Die Parteien stehen im Dienste von Interessen, die nichts mit ihren vermeintlich guten Absichten zu tun haben.
Sie denken dabei sicher an horizontale Bewegungen wie die der Empörten in Spanien. Die Bewegung 15-M mobilisiert viele Menschen, aber Konkretes hat sie nicht erreicht?
Alle fragen immer: Was habt ihr erreicht? Dabei wird das Wichtigste gerne übersehen. Die Bewegung hat einen Prozess ausgelöst. Es sind unzählige kleine Initiativen entstanden, die untereinander vernetzt sind. Die Menschen stehen den Problemen nicht mehr alleine gegenüber. Egal wo sie leben, gibt es Versammlungen, an die sie sich wenden können, die sie unterstützen. Wir sind keine vereinzelten Individuen mehr. Wir sind eine Gemeinschaft, die längst international vernetzt ist. Die Menschen ändern ihre Verhaltensmuster, die Art wie sie leben, wie sie Probleme angehen.
Ist die Bewegung wirklich noch horizontal?
Mehr denn je. Das ist allerdings ein sehr schwieriger Lernprozess. Die hierarchischen Strukturen aus Jahrhunderten hinter sich zu lassen, eine neue Art der Politik entwickeln, ist nicht leicht. Keiner kann sagen, was letztendlich bei dieser Bewegung herauskommt. Aber es gibt Prinzipien wie die Horizontalität, die für die Menschen unumstößlich sind.
Ist die Entscheidung, sich horizontalen zu vernetzen angesichts der zunehmenden Krise überhaupt richtig?
Uns wird immer wieder vorgeworfen, wir seien schlecht organisiert. Wer uns das vorwirft, redet von Strukturen aus dem vergangenen Jahrhundert. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Die soziale und wirtschaftliche Dynamik ist eine andere. Es geht darum die Strukturen der Zukunft zu schaffen. Die Bewegung 15-M spiegelt dies wieder.
Ok. Es entstand ein breites Netzwerk. Aber gleichzeitig hat die Rechte in Spanien die Wahlen mit absoluter Mehrheit gewonnen. Die Krisenpolitik wird immer härter.
Das ist Teil des Prozesses. Wir haben in nur einem Jahr eine solide Netzstruktur geschaffen, mit der wir uns gegenseitig unterstützen. Diese Strukturen stehen für neue Regeln, neue Verhaltensmuster, wie es sie bisher nicht gab. Das ist das Wesentliche. Wir dürfen uns nicht von ihrem Zeitplan beeinflussen lassen. Wir müssen unsere eigene Dynamik, unseren eigenen Zeitplan, unsere eigenen Ziele stecken. Ich werde doch nicht gegen einen gedopten Hochleistungssportler antreten. Das ist sinnlos. Würde ich mich darauf einlassen, würde ich das nicht überleben.
Es ist immer wieder von der #spanishrevolution die Rede. Ein großes Wort.
Wir stehen vor einer neuen Epoche. Die Revolutionen haben sich immer durch drei Schritte ausgezeichnet: ein technologischer Wandel, ein sozialer Wandel, und schließlich der politische Wandel. Die politischen Strukturen sind die konservativsten. Sie haben schließlich die Macht in der Hand.
Bei der französischen Revolution war es die Erfindung der Buchdrucks durch Guttenberg. Es gingen Jahrhunderte ins Land, bis dies eine aufgeklärte Klasse zu Folge hatte, die das politische System stürzte. Bei der russischen Revolution war es die Dampfmaschine und die industrielle Revolution. Das führte zu einer Veränderung der Produktionsverhältnisse. Schließlich kam der Umsturz in Russland. In anderen Ländern entstand die Sozialdemokratie.
Was heißt das für heute?
Der technologische Wandel der neuen Epoche ist das Internet. Es ist eine revolutionäre Erfindung, die die Art, wie wir uns zueinander in Beziehung setzen, verändert. Gleichzeitig erleben wir einen sozialen Wandel. Die herkömmliche Familie gibt es so nicht mehr. Der Vater ist nicht mehr der Bezugspunkt. Es gibt Alleinerziehende beiderlei Geschlechts, homosexuelle Paare mit Kindern, Patchworkfamilien … Die alte, patriarchalische, hierarchische Struktur als Modell steckt in der Krise. Dieser soziale Wandel wird nach und nach einen politischen Wandel hervorbringen. Wie der letztendlich aussieht, weiß keiner. Aber er ist unausweichlich.