© 2012 Reiner Wandler

Kein algerischer Frühling

Die Parlamentswahlen am kommenden 10. Mai sollen den Reformwillen von Algeriens Präsidenten Abdelaziz Bouteflika unter Beweis stellen. Der neuen Volksvertretung fällt die Aufgabe zu, die Verfassung zu überarbeiten. Doch bei der Bevölkerung stossen die Wahlen auf Desinteresse.

44, meist unbekannte Parteien treten an. Selbst bei den Großen blieben die Säle leer. Die ehemaligen Einheitspartei FLN und deren Abspaltung und Regierungspartner RND mussten in der Provinz Versammlungen mangels Publikum absagen. Das islamistische Bündnis „Allianz für eine grünes Algerien“ um die Partei Hammas, die seit Ende der 1990er mitregiert, und jetzt anstrebt stärkste Kraft zu werden, füllt ihre Säle mit bezahlten Fußballfans. Sie sind zu jung um zu wählen, aber sie sind lautstark und bunt genug, um zumindest fürs Fernsehen den Eindruck eines gelungen Wahlkampfes zu vermitteln.

Vertreter der seit ihrem Wahlsieg 1992 verbotene Islamische Heilsfront (FIS) und weltliche oppositionelle Kräfte rufen zum Boykott. Sie glauben nicht an die Reformversprechen, die Bouteflika angesichts des arabischen Frühling abgab. Die Wahlen drohen zum Debakel zu werden.

Bereits vor fünf Jahren fanden landesweit nur 36 Prozent den Weg an die Urnen, in der Hauptstadt Algier waren es nur 18,4 Prozent. Staatschef Bouteflika versucht sein Volk mit einer Angstkampagne zur Stimmabgabe zu bewegen. Eine niedrige Beteiligung könne als Vorwand für eine „ausländische Intervention“ dienen, erklärte er in einer Ansprache. „Erfolgreiche Wahlen bewahren Euch vor dem Unbekannten. Im Falle eines Scheiterns steht die Glaubwürdigkeit des Landes auf dem Spiel.“

„Wenn wir nicht wünschen, erneut enthauptet zu werden(…), müssen die Algerier massiv an die Urnen gehen, damit wir nicht in das dunkle Jahrzehnt zurückfallen“, weckt Premier Ahmed Ouyahia gar die Erinnerungen an die blutigen 1990er Jahre, als beim Konflikt zwischen Armee und radikalen Islamisten 200.000 Menschen ihr Leben verloren. Es hilft alles nichts. Karrikaturisten und Kolumnisten machen sich über die Aufrufe lustig, während die Präsidentschaftswahlen in Frankreich die Titelblätter zieren, die Säle böeiben weiterhin leer.

„Wir leben in einem undurchsichtigen, diktatorischen System, das vom ganzen Volk gehasst wird“, zeigt der bekannte Mneschenrechtsanwalt und Spitzenkandidat der Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) in Algier, Mustapha Bouchachi, Verständnis für das Desinteresse seiner Landsleute. Die Politik in Algerien sei nur Fassade, die wirklichen Entscheidungen treffen Generäle und andere einflussreiche Kräfte im Hintergrund.

Einmal im Parlament will Bouchachi all dies anklagen. Die FFS des in der Schweiz lebenden Unabhängigkeitsveteranen Hocine Ait Ahmed ist eine der wenigen echten Oppositionsparteien, die an den Wahlen teilnehmen. „Der friedlicher Weg zu Reformen ist die einzige Chance. Die Möglichkeit neuer Gewalt ist reell“, erklärt Bouchachi, warum seine Partei nicht wie andere zum Boykott ruft.

Es gibt fast täglich Gewaltausbrüche in Algerien, so wie vergangenen Woche in Jijel, 360 Kilometer östlich der Hauptstadt. Wie im Dezember 2010 in Tunesien zündete sich ein fliegender Händler selbst an, um gegen seine unerträgliche soziale Lage zu protestieren. Jugendliche stürmten kurz darauf die Provinzverwaltung, steckten staatliche Gebäude in Brand. Es war nicht die erste Selbstverbrennung. Die algerische Presse zählt seit Beginn 2011 Dutzende solcher Aktionen. Doch anders als in Tunesien sprang der Funke der Proteste nie auf ganz Algerien über.

„Das System hat gesiegt“, konstatiert der algerische Schriftsteller Boualem Sansal sicher. Die Algerier seien nach dem blutigen Bürgerkrieg traumatisiert, das Land völlig regional zersplittert. „Algerien ist innerhalb der Instabilität dank dieser Aufsplitterung sehr stabil. Die Leute haben Angst vor einer Veränderung. Syrien und Libyen haben gezeigt, dass dem Staat unheimliche Gewaltmittel zur Verfügung steht“, sagt Sansal, der im vergangenen Jahr für sein Werk mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. „Ich befürchte, dass die Algerier den Glauben an die Demokratie verloren haben“, fügt er hinzu.

Was bisher geschah: