© 2012 Reiner Wandler

"Wir alle sind Amina"

Das Pappschild schockiert: „Vergewaltige mich. Heirate mich. Das Leben ist nichts wert. Ich bin Marokkanerin“, steht da zu lesen. Die junge Frau, die es hoch hält, ist eine von rund ein Tausend Protestierenden, die sich letzten Samstag zum Sit-In vor dem marokkanischen Parlament in Rabat zusammengefunden hatten. Ihr Motto: „Das Gesetz hat mich getötet. Wir alle sind Amina.“

Wer Amina el-Filali ist, muss in Marokko niemand erklären. Jeder kennt das traurige Schicksal der 16-Jährigen aus dem nordmarokkanischen Larache. Sie schluckte am 10. März Rattengift. Jede Hilfe kam zu spät.

Der Grund für diesen schwerwiegenden Schritt: Amina wollte ihrer unerträglichen Ehe entfliehen und wusste ich nicht anders zu helfen. Denn ihr zehn Jahre ältere Ehemann Mustapha war zugleich ihr Vergewaltiger. Als Amina gerade einmal 15 Jahre alt war, hatte sie der junge Mann aus der Nachbarschaft mit einem Messer in der Hand zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Und er entkam der hohen Haftstrafe dank des Artikels 475 des marokkanischen Strafgesetzbuches. Der sieht eine Einigung zwischen der Familie des minderjährigen Opfers und des Täters vor. Um die Ehre der Familie zu wahren, wurde Anima so mit Mustapha verheiratet. Das zuständige Gericht stimmte zu.

„Ich wollte nicht zum Richter gehen, um sie zu verheiraten. Aber meine Frau hat mich dazu gezwungen. Sie hat gesagt, nur so würde das Gerede in der Nachbarschaft aufhören“, erinnert sich der gebrochene Vater von Amina vor der Presse bei einem ersten Sit-In an genau jenem Gericht, dass die Ehe registrierte.


Der Fall Amina sorgt für Schlagzeilen. „Das Gesetz und die soziale Norm ist absurd und grotesk“, schreibt die Tageszeitung Al Sabah, „Da soll ein schlechte Tat – die Vergewaltigung – durch eine andere noch widerwärtigere Tat – die Heirat mit dem Vergewaltiger – wiedergutgemacht werden.“ Die Wirtschaftszeitung „La vie eco“ veröffentlichte vor wenigen Tagen eine lange Reportage, in der zahlreichen Frauen zu Wort kommen, die wie Amina als Minderjährige vergewaltigt und von den Familien mit ihrem Peiniger zwangsverheiratet wurden. In einigen Fällen – so der Text – komme es zu diesen Vergewaltigungen, nachdem eine junge Frau einen Heiratsantrag abgewiesen habe. Der Mann zwingt die Frau per Vergewaltigung zur Ehe.

Der Ruf nach einer Reform des fraglichen Paragraphen wird immer lauter. Menschen- und Frauenrechtsorganisationen verlangen ein schnelles Handeln der Regierung. Eine online-Petition hat mittlerweile über 4.000 Unterzeichner. Die Bewegung zeigt erste Wirkung. Zwar schweigt der islamistische Regierungschef Abdelilah Benkirane, obwohl sein Twitteraccount regelrecht mit Nachrichten und Fragen bombardiert wird, doch der Kommunikationsminister findet deutliche Worte: Er spricht von einer „doppelten Vergewaltigung“.

Die staatliche Menschenrechtsbehörde CNDH hat sich mittlerweile des Falles angenommen. Eine Delegation reiste eigens nach Larache. „Amina ist tot, weil das aktuelle Gesetz gleich zweimal sündigt: in dem es erlaubt, den die Strafverfolgung gegen den Vergewaltiger einzustellen, wenn er sein Opfer heiratet (Artikel 475 Strafgesetzbuch) und weil es einem Richter die Möglichkeit gibt, einer Minderjährigen das Recht auf Ehe zuzugestehen (Artikel 20 des Familienrechtes“, heißt es in einem Kommuniqué der Instanz.

Das Familienrecht, das jetzt neben dem Strafrecht ins Visier der Kritik gerät, wurde erst 2004 überarbeitet und damals als eines der modernsten in der arabischen Welt gepriesen. Bassima Hakkaoui, Familienministerin und einzige Frau im Kabinett, versprach nur wenige Tage nach dem Selbstmord bei einem Fernsehauftritt „eine Debatte, um das Gesetz zu reformieren.“

Hakkaouis Amtsvorgängerin, die Sozialdemokratin Nouzha Skalli, beschwert sich über den „fehlenden Schutz für Minderjährige“. „Das Gesetz behandelt ein minderjährige Vergewaltigte wie eine Kriminelle, obwohl sie das Opfer von Gewalt ist“ beschwert sie sich. In ihrer Amtszeit fiel eine erste Initiative, um das Gesetz zu reformieren. Doch das Thema wurde vom Parlament nicht als dringlich angesehen./Fotos: RipAmina

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