© 2012 Reiner Wandler

Systematischer Kindsraub

Es war ein lukratives und perfides Geschäft, das die spanische Nonne María Gómez Valbuena zusammen mit Ärzten der Madrider Geburtsklinik bis hinein in die 1980er Jahre betrieb. Alleinstehenden Schwangeren aus sozial benachteiligtem Umfeld wurden ihre Neugeborenen weggenommen und an reiche, gut katholische Familien verkauft.

Die mittlerweile 80-jährige Schwester María schaltete Anzeigen in Zeitschriften. Alleinstehenden Schwangeren würde geholfen, hieß es da. Es waren dunkle Jahre im streng katholischen Spanien. Meist wurden unverheiratete Schwangere von der Familie zurückgewiesen, legalen Schwangerschaftsabbruch gab es nicht. Schwester María versprach den jungen Frauen bei einem ersten Gespräch die Versorgung der Neugeborenen in einem Kinderheimen. Das sollte der Mutter helfen, ihr Leben in Ordnung zu bringen.

Doch wer sich auf Schwester María einließ, verlor sein Kind. Kaum aus dem Kreissaal entlassen, wurden den meisten Müttern erklärt, das Baby sei tot zu Welt gekommen. Das Krankenhaus würde sich um die Beisetzung kümmern. Im Nachbarzimmer wartete die Käuferin und nahm den Säugling entgegen. Hohe Geldbeträge wechselten den Besitzer. Kamen einer Mutter Zweifel, ging das Krankenhauspersonal soweit, ihr einen Leichnam zu zeigen. Dieser soll, so Zeugen, in einem Kühlschrank eigens für diesen Zweck aufbewahrt worden sein.

Nach jahrelangem Drängen haben die betroffenen Frauen jetzt bei Gericht Gehör gefunden. Die Madrider Staatsanwaltschaft beschuldigt seit Donnerstag Schwester María der „Entführung“. Madrid scheint kein Einzelfall. Die Initiative der Betroffenen schätzt die Zahl der Kinder, die in den Jahren der Diktatur und in den ersten Jahren der Demokratie geraubt wurden, auf bis zu 300.000. 1.500 Anzeigen gingen im letzten Jahr bei den Gerichten ein. Mittlerweile wurden auf richterliche Anordnung 22 Gräber geöffnet. Mehrere von ihnen waren tatsächlich leer.

Die ersten Anzeigen kamen von Menschen, denen die vermeintliche Mutter auf dem Sterbebett gestand, dass sie einst gekauft worden waren. Zusammen mit Frauen, die nie den Verdacht losgeworden sind, ihr Baby sei gar nicht gestorben, gründeten sie die Initiative „Plattform geraubter Kinder“. Sie demonstrierten immer wieder. 90.000 Unterschriften forderten schließlich eine „Untersuchungskommission wie in Argentinien“. Die Betroffenen haben auch den in Madrid verantwortlichen Arzt ausfindig gemacht. Eduardo Vela, der mittlerweile in Rente ist, leugnete beim Verhör alles. Nach Unterlagen über die Geburten befragt, gab er an, sie vernichtet zu haben – zum Schutz der Persönlichkeit der Mütter.

„Überall in Spanien gab es Nonnen und Ärzte, die nach dem gleichen System vorgingen“, berichtet Mar Soriano Rúiz, Gründerin und Sprecherin der Initiative in Madrid. „Es gibt keinen Grund mehr, uns abzuweisen“, begrüsst die Frau Ende 40, die ihre Schwester Beatriz sucht, den Beschluss der Staatsanwaltschaft. Sie sei angeblich an Mittelohrentzündung verstorben, wurde ihrer Mutter einst erklärt. Sie hofft Beatriz eines Tages zu finden. In mindestens neun Fällen war die Suche nach den verschwundenen Kindern bisher erfolgreich. „Alles dank unserer Arbeit. Ohne jegliche Unterstützung von staatlicher Seite“, beschwert sich Soriano.

Was bisher geschah: