© 2011 Reiner Wandler

#spanishrevolution Empört zur Wahl

Esperanza Encabo wohnt im Hotel. Es ist nicht irgendein Hotel und der Aufenthalt ist nicht ganz freiwillig. Das Haus liegt mitten im Zentrum Madrids, nur wenige Meter von der Puerta del Sol entfernt, wo bei den spanischen Kommunal- und Regionalwahlen im Mai Hunderte ihr Protestcamp errichteten. „Wir haben das leerstehende Gebäude nach den weltweiten Mobilisierungen am 15. Oktober besetzt“, erklärt Encabo. Sie selbst wurde aus ihrer Wohnung in einem kleinen Dorf 100 Kilometer westlich von Madrid geklagt. Encabo ist kein Einzelfall. In den letzten fünf Jahren wurden in Spanien 500.000 Wohnungen zwangsgeräumt. Ganze Familien landen auf der Straße. Das „Befreite Hotel Madrid“ will ihnen vorübergehend eine Bleibe geben.

Das Gebäude mit seinen fünf Stockwerken, Küchen, Restaurant und Versammlungsräumen stand seit Jahren leer. Es gehört einer Immobilienagentur, die mit Luxuswohnungen und teuren Gebäuden spekuliert. Januar 2010 erklärte sich die Agentur, die in mehrere Immobilienskandale verwickelt sein soll, zahlungsunfähig. Für die Besetzer sind Unternehmen wie die Agentur „für die Politik mitverantwortlich, die das Land in die schwierige wirtschaftliche Lage gebracht hat“. Spanien boomte über ein Jahrzehnt dank der Immobilienspekulation. Dann platzte die Blase. Fünf Millionen Menschen – über 20 Prozent – sind jetzt ohne Arbeit. Die Jugendarbeitslosigkeit ist doppelt so hoch. Spanien führt damit die Statistiken in Europa an. Das Hotel ist zum neuen Symbol der Bewegung der Empörten geworden.

Esperanza Encabo sieht sich als „Aktivistin der Bewegung der Empörten“ oder dem „15M“, wie sie sich nennen. Der Name bezieht sich auf den 15. Mai, als mit einer Demonstration gegen Korruption, Jugendarbeitslosigkeit und das ungerechte spanische Wahlsystem alles begann. Dabei will Encabo gar nicht so recht in dieses Schema passen. Mit 75 Jahre ist sie eigentlich viel zu alt, für Proteste, die der Unzufriedenheit der spanischen Jugend zugeschrieben werden. „Ohne die jungen Leute vom 15M wäre ich auf der Straße“, erklärt die Frau, die sich bis zur Rente mit Gelegenheitsjob in Spanien, Deutschland, Frankreich und Belgien durchgeschlagen hat.

Gleich neben dem Hotel, auf der Puerta del Sol findet Wahlkampf statt. Ob die konservative Partido Popular (PP), der die Umfragen einen absolute Mehrheit vorhersagen, die PSOE des noch regierenden Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero oder kleinere Parteien, alle legen einen Zwischenstopp im Herzen der spanischen Hauptstadt ein. Sie versprechen und versprechen. Encabo lässt das kalt. „Es ist Zeit die Tortilla umzudrehen“, nutzt die energische Alte ein spanisches Sprichwort.

Bisher habe sie immer die Sozialisten gewählt. Nach der Krisenpolitik mit Sozialkürzungen, die weder vor Kindergeld, noch vor dem Gesundheitssystem und auch nicht vor Bildung, Arbeitslosen-, Sozialhilfe und den Gehältern im öffentlichen Dienst halt machte, wandte sie sich von der Partei des amtierenden Premiers Zapatero und dessen Nachfolger als Spitzenkandidat Alfredo Pérez Rubalcaba ab. „Ich werde dieses Mal einer kleinen Partei meine Stimme geben“, erklärt Encabo. Sie sympathisiert mit der neuentstandenen Grünen Partei Equo.

Im Mai bei den Kommunal- und Regionalwahlen lautete der Slogan der Empörten „Wähl sie nicht!“ oder „Sie vertreten uns nicht!“. Die Stimmenthaltung stieg ebenso wie die ungültigen Stimmen. Die PP gewann haushoch. Dies führte zu Diskussionen in Encabos Hotel und auch auf den Versammlungen des 15M an der Puerta del Sol und in den Stadtteilen. „Wer nicht wählt, legitimiert damit das Zweiparteiensystem“, erklärt Fernando Rodríguez, warum der Urnengang plötzlich zum Thema wurde. Der 37-jährige Berufsschullehrer war von Anfang an im Protestcamp an der Puerta del Sol. Er gehörte zu denen, die Vollversammlungen mit Tausenden von Teilnehmern leiteten.

Im Internet macht ein Video von Anonymous die Runde und „Echte Demokratie jetzt!“ – die Plattform, die einst zum 15. Mai mobilisierte – meldet sich ebenfalls in Twitter und Facebook mit Aufrufen, eine der kleinen Parteien zu wählen, zu Wort. Die Umfragen zeigen: Die postkommunistische Vereinigte Linke, die Zentrumspartei UPyD und die neu entstandenen grüne Equo dürfen sich Hoffnungen auf Stimmen aus den Reihen derer machen, die dem bisherigen System den Rücken kehren. Rodríguez, der heute bei den Lehrerprotesten gegen Stellenkürzungen an den öffentlichen Schulen in Madrid aktiv ist, schwankt zwischen Equo und der linksradikalen Formation „Anticapitalistas“. „Vermutlich werde ich grün wählen, denn sie haben reelle Chancen ins Parlament einzuziehen“, sagt er.

„Die Menschen haben sich dank unserer Proteste wesentlich mehr mit den Problemen und den möglichen Antworten darauf beschäftigt“, ist sich Fabio Gándara sicher. Die basisdemokratische Erfahrung der Empörten habe andere soziale Protestbewegungen gegen Sozialabbau und auch neue, kleine Parteien beeinflusst. Der 26-jährige arbeitslose Jurist ist einer der Gründer von „Echte Demokratie jetzt!“. Auch er will eine der kleinen Parteien wählen. Welche, das gibt er nicht preis. „Vor allem die kleinen Parteien haben sich unserer Forderungen nach mehr direkter Demokratie angenommen“, sagt er.

Trotz des bevorstehenden Sieges der Konservativen, ist er optimistisch. „Die Mobilisierungen gehen weiter und wir werden am Wahlsonntag eine Überraschung erleben.“ Er glaubt an „den Beginn vom Ende des Zweiparteiensystem“. – „Das Parlament wird so viele Parteien aufnehmen, wie nie zuvor“, sagt Gándara und schreibt das den Mobilisierungen seit dem 15. Mai zu.

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