© 2011 Reiner Wandler

Gafsa: Die Wiege der tunesischen Revolution

„Unser Held“, stellt die Gruppe junger Erwachsener Mahmoud Raddadi vor, als dieser an den Tisch im Garten des Kulturzentrums in Gafsa tritt. Der hagere Mann in einem abgewetzten Blazer lächelt schüchtern. „Held? Nein!“ das sei er nicht. Er habe nur getan, was er tun musste. Der 40-Jährige Berufsfotograf hielt mit seiner Videokamera fest, was ihnen hier in der Region von Gafsa im Zentrum Tunesiens als „der eigentliche Beginn der Revolution“ gilt. Raddadi filmte die monatelangen Proteste der Bevölkerung im Phosphatabbaugebiet in der Wüste und gab die Aufnahmen an Satelittensender weiter. „Ich musste doch informieren“, sagt er bescheiden.

Es war 2008. Die staatliche Phosphatgesellschaft CGP stellte 68 Arbeiter in Raddadis Heimatort Redeyef ein. Als die Listen veröffentlicht wurden, war klar, Vetternwirtschaft und Korruption hatte wieder zugeschlagen. Die Jobs gingen alle an Familienangehörige der Chefs, des Gouverneurs der Region sowie an Mitglieder Regierungspartei des im Januar diesen Jahres gestürzten Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali, der RCD.

Es kam zu einem Auflauf vor dem Gewerkschaftshaus der UGTT. Diese unterstützte die Proteste. Tag für Tag gingen immer mehr Menschen gingen auf die Straße, auch in den umliegenden Dörfern. Erstmals wurden Parolen gegen das Regime gerufen. „Ben Ali wollten das Ende des Regimes“, erzählt Raddadi. Bewegung der Würde tauften sie ihre Proteste.

Bis Juni ging das so. Dann schlug die Polizei erbarmungslos zu. Vier Menschen kamen durch Schüsse ums Leben, mehrere Dutzend wurden verletzt, hunderte Verhaftet und 38 als Rädelsführer zu langen Haftstrafen verurteilt. „Darunter auch ich“, berichtet Raddadi, der für die Verbreitung der Schreckensbilder vier Jahren Haft bekam. Nach 18 Monaten wurde er von Ben Ali auf Grund internationalen Drucks zusammen mit den anderen begnadigt. Seine beschlagnahmte Studioausrüstung hat er bis heute nicht wieder gesehen. „Ich bin seither arbeitslos“, sagt Raddadi und zeigt eine Liste voller teurer Fotoapparate.

„Seit den Tagen von Redeyef ist in Tunesien nichts mehr, wie es war“, erklärt Raddadi, warum auch er 2008 als den Anfang vom Ende des Regimes sieht. Skira, Sfax, Ben Gardane sind nur einige der Orte in denen es zu Protesten und Unruhen kam, bevor schließlich die Selbstverbrennung eines Arbeitslosen in Sidi Bouzid im Dezember 2010 die tatsächliche Revolution auslöste. Am 14. Januar 2011 floh Ben Ali nach 23 Jahren an der Macht. Es war der Beginn des arabischen Frühlings.

Am morgigen Sonntag werden erstmals freie Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung stattfinden. Grund genug, um für die Gruppe im Garten des Kulturzentrum Resümee zu ziehen. Alle waren 2008 dabei, alle waren sie 2011 wieder auf der Straße, und alle nahmen auch an den beiden Besetzungen der Kasbah, dem Platz vor dem Regierungsgebäude in der Hauptstadt Tunis teil, die zum Rücktritt der belasteter Politiker aus der Übergangsregierung und zum Zugeständnis, eine Verfassungsgebende Versammlung zu wählen, führten. „Am Sonntag ist ein historischer Tag, erstmals kann das tunesische Volk seinen Willen frei zum Ausdruck bringen“, sagt der 30-jährige Rachid Abdaoui.

Das Gespräch geht darum, ob und was sich seit dem Sturz von Ben Ali geändert hat. „Wir können frei reden, ohne über die Schulter schauen zu müssen“, beginnt die einzige Frau in der achtköpfigen Runde, Dalel Khdiri (27). „Ansonsten ist so gut wie alles beim Alten geblieben“, beschwert sich die arbeitslose Französischlehrerin. Außer wenige hohe Beamte seien die alten RCD-Mitglieder weiterhin im Amt und es gebe noch immer keine Jobs für junge Menschen. In Gafsa sind 34 Prozent ohne Arbeit. Zweidritel davon sind junge Akademiker.

„Und draußen in den Bergarbeiterdörfern ist auch alles beim Alten“, fügt Mahmoud Raddadi hinzu. Tunesien ist der viertgrößte Phosphatlieferand weltweit. Doch das Einnahmen kommen der Region um Gafsa nicht zu gute, beschwert er sich. Es werde in den Tourismus an der Küste investiert.

Allen hier ist klar, dass die angespannten sozialen Lage so schnell verbessern wird. Die neue Regierung, die jetzt gewählt wird, ist wieder nur provisorisch. Und das Parlament hat hauptsächlich die Aufgabe die Verfassung auszuarbeiten.

Sie alle haben sie vor allem eine Befürchtungen: „Dass die Islamisten von Ennahda zu stark werden und wichtige Rechte, wie die der Frauen zurücknehmen“, erklärt Khdiri. Ennahda füllt im Wahlkampf große Hallen und mancherorts gar Fußballstadien. Keiner zweifelt daran, dass sie als stärkste Kraft in die Versammlung einziehen wird. Die restliche politische Landschaft ist stark zersplittert. In Gafsa stehen über 60 Listen zur Wahl. „Das neue Parlament wird ein Mosaik sein“, ist sich Raddadi sicher. Er hofft, dass die nichtreligiösen Parteien nach der Wahl ein Bündnis eingehen, um Ennahda die Stirn zu bieten. Raddadi selbst will einer kleinen, linken Liste seine Stimme geben.

Was bisher geschah: