© 2011 Reiner Wandler

Opposition gegenüber allem

Als ein Wechselbad aus „Glück, Freude, Angst und Beklemmung“, beschreibt Boualem Sansal den 10. Mai diesen Jahres. An „jenem Tag, den ich nie vergessen werde“ klingelte das Telefon in der Wohnung des 62-Jährigen in der algerischen Kleinstadt Boumerdés. Sein literarisches Schaffen – fünf Romane und eine Streitschrift liegen beim Merlin Verlag auf Deutsch vor – werde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, erfuhr Sansal: „Erst dachte ich, da nimmt mich jemand auf den Arm. Der Friedenspreis erschien mir einfach eine Nummer zu groß. Dann erfüllte mich die Nachricht, eine solche Anerkennung zu erfahren, mit Stolz.“ Am Sonntag, den 16. Oktober 2011, wird Sansal in einer Feierstunde in der Frankfurter Paulskirche geehrt.

Boualem Sansal ist trotz seiner 62 Jahre ein junger Schriftsteller. Sein erstes Werk – „Der Schwur des Barbaren“ – liegt nur 12 Jahre zurück. Es war im Algerien der 1990er Jahre, als der ranghohe Ingenieur im Industrieministerium zu schreiben begann. Um ihn herum riss der Konflikt zwischen Armee und bewaffneten Islamisten Algerien in den Abgrund. Der Weg ins Büro – 50 Kilometer von seinem Wohnort entfernt – war unsicher. Bomben, falsche Straßenkontrollen, Schüsse – Sansal durchstand das Drama eingeschlossen in seiner Wohnung und eingeschlossen in sich selbst: „Was macht man, wenn man nicht mehr lebt? Ich schrieb und schrieb!“

„Hart ist die Einsamkeit für den, der nicht bis zu den Zähnen bewaffnet ist. Ich habe gelernt, das Beste daraus zu machen, ich kann meine Tage mit nichts füllen, Stille, Träumen, Reisen in der vierten Dimension“, lässt der Schriftsteller eine seiner Figuren sagen. Sansals Romane sind das Ergebnis dieser Fluchten ins innere Exil. Sie zeichnen ein Bild der Schizophrenie Algeriens – ein Mosaik einer völlig zerrissenen Identität eines ganzen Landes, der Menschen und seiner selbst. In einer Sprache, die oft an den magischen Realismus Lateinamerikas erinnert, beschreibt er eine Welt, „die keinen Glauben, die keine Werte mehr hat, die sich nur noch darauf versteht, auf ihre Dummheit und Entwürdigung stolz zu sein“.

In Frankreich wurde Sansal für seine Bücher als Spracherneuerer gefeiert und mit Preisen geehrt. Zuhause gilt er, „der immer im intellektuellen Widerspruch zum Regime stand, aber nie offen oppositionell war“, den Mächtigen fortan als Nestbeschmutzer. Er wurde vom Dienst suspendiert, zeitweise hatte er keinen Reisepass. Verstummen ließ ihn das nicht. Nach wie vor lebt und schreibt Sansal in Boumerdés und ist damit der letzte, bekannte Intellektuelle, der nicht ins Exil gegangen ist. „Wer von Bedrohung spricht, denkt leise und heimlich an die Regierung“, heißt es in einem der Werke Sansals. Er ist dennoch geblieben, denn wahre Kritik könne man eben nicht vom Ausland aus üben.

Seit dem Erscheinen seines neuesten Werkes „Rue Darwin“ (bisher nur auf Französisch), das ihn nach dem schmerzhaften Verlust der Mutter in das Algier seiner Kindheitstage zurückführt, schreibt Sansal vor allem kurze Essays über die Entwicklung in der arabischen Welt. Den Texten liegt immer die gleiche Maxime zugrunde: „Opposition ist nicht nur Opposition gegenüber dem Regime, sondern auch gegenüber den Gesetzen, dem Propheten und selbst gegenüber Gott. Opposition ist Opposition gegenüber allem.“

Große Hoffnungen setzt er nicht in den arabischen Frühling. „Kann man überhaupt von Revolution reden?“ provoziert er. „Einen Diktator durch einen anderen zu ersetzen, bringt jedes Volk fertig – eine alte Idee durch eine neue zu ersetzen – das ist das Abenteuer der Zukunft.“ Deshalb stehe die wahre Revolution noch aus. Es sei die der Ideen. „Eine Revolution, die sich anschickt, dem Individuum einen Platz in der Gemeinschaft einzuräumen, die der Vernunft neben dem Glauben zu ihrem Recht verhilft, die der Frau einen Platz auf einer Stufe mit dem Mann einräumt, die dem Zweifel – der das Leben verfeinert – gegenüber den unumstößlichen Gewissheit der Religion Raum gibt, die den von Menschen gewählten Vertretern vor den Gesandten und Repräsentanten Allahs stellt“, schreibt er.

Wenn überhaupt sieht Sansal diese Möglichkeit nur im kleinen Tunesien gegeben. Dort seien die Frauen stolz und wüssten ihre Rechte zu verteidigen. „Wenn die Frauen frei sind, kommt der Rest von alleine“, ist er sich sicher. Die Frage nach seinem Algerien setzt dem für Sansal ungewöhnlichen Anflug von Optimismus ein jähes Ende. „Die Situation ist entsetzlich. Die Macht ist auf dem Weg wie eine verfaulte Frucht zu sterben. Und sie reißt uns mit in diesem Fäulnisprozess und niemand reagiert.“ Es ist eine der düsteren Perspektiven, die so typisch sind für Sansal und die sich leider immer wieder bewahrheiten.

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