© 2011 Reiner Wandler

Eine Radiographie des neuen Tunesiens

Der typische Tunesier, die typische Tunesierin, ist um die Sicherheit besorgt, will sich in die Politik einmischen, kennt kaum Parteien, oft nur die Islamisten, fühlt sich von ihnen aber nicht angezogen und will auf gar keinen Fall einen starken Präsidenten. Dieses Bild ergibt die erste repräsentative Umfrage, die am Montag in Tunis vorgestellt wurde. „Wir haben 1060 Tunesier und Tunesierinnen aller Alters- und Bildungsgruppen aus sämtlichen Regionen persönlich interviewt“, erklärt der für die Umfrage Verantwortliche Attia Salah, vom in Tunis ansässigen Marktforschungsunternehmen Global Management Services. Herauskam eine 52-seitige Radiographie mit dem Titel „Die Tunesier und die Politik nach dem 14. Januar“, dem Tag, als Diktator Zine el-Abidine Ben Ali fluchtartig das Land verließ. Die Studie ergibt ein erstaunlich homogenes Bild der Bevölkerung.

Von der neuen, demokratischen Zukunft haben die Befragten eine klare Vorstellung. Nur 16 Prozent wollen ein System mit einem starken Präsidenten. 41 Prozent setzten auf eine rein parlamentarische Demokratie und 39 Prozent wären mit einem gemischten System einverstanden. Arbeiter und Angestellte, Arbeitslose und Studenten sowie die Bevölkerung im armen Landesinneren, von wo die Revolte gegen Ben Ali im Dezember vorigen Jahres ihren Ausgang nahm, sind überdurchschnittlich von einer parlamentarischen Demokratie angetan. Die am 24. Juli zur Wahl stehende verfassungsgebende Versammlung müsse sich – so 43 Prozent – nach Ausarbeitung der neuen Magna Carta auflösen. Nur 26,5 Prozent wollen, dass sie als Parlament weiter im Amt bleibt.

59,2 Prozent sehen den Übergangsprozess zur Demokratie in guten Händen. Sie sind sich sicher, dass die derzeitige Regierung die soziale und wirtschaftliche Lage des Landes gut kennt. 45,6 Prozent vertrauen darauf, dass sie nicht von Männern des alten Systems bestimmt wird.

62 Prozent wollen sich aktiv am politischen Leben beteiligen. 45 Prozent definieren sich als „politische Mitte“. 71,4 Prozent geben an, wählen zu wollen, 30,4 Prozent sehen die sozialen Medien im Internet als ihr Betätigungsfeld, 28,2 Prozent überlegen sich einer Partei beizutreten und 21,5 Prozent wollen in den Gruppierungen der Zivilgesellschaft aktiv werden. 20 Prozent sehen Demonstrationen und Sit-ins als ein adäquate Mittel.

Viele Tunesier kennen – nach 23 Jahren der Zensur – weder die Parteienlandschaft noch deren Vertreter. Am bekanntesten ist neben dem Chef der Übergangsregierung Beji Caied Essebsi der Führer der islamistischen Ennahda, Rachid Ghannouchi. Doch diese Popularität nutzt dem Veteranen der religiös-politischen Bewegung nur wenig. Auf die Frage, von welchem Politiker sie sich am weitesten entfernt fühlen, antworten in allen Alters- und Berufsgruppen zwischen 45 und 62 Prozent ebenfalls „Rachid Ghannouchi“. Und nur 6,9 Prozent halten den Islamisten für „rechtschaffensten oder ehrlichsten“ Politiker.

Was bisher geschah: