© 2011 Reiner Wandler

Alleingelassen

Ein 100 Meter breiter Grenzstreifen trennt in Ras Ajdir Tunesien von Libyen. Der Asphalt fehlt, nur steiniger Grund. Der Wind wirbelt Staub auf. Es riecht schlecht. Auf beiden Seiten stehen die typischen Gewölbegänge mit mehreren Durchfahrten, wie an den meisten Grenzstationen. Hüben weht die rote Fahne mit Halbmond Tunesiens, die seit dem 14. Januar das Symbol der arabischen Revolution ist, drüben das grüne Tuch des Reiches von Muammar Al Gaddafi. Hüben stehen Soldaten und Nationalgardisten, drüben ist außer den ununterbrochen ankommenden Menschen mit schweren Gepäckstücken niemand zu sehen. Es sind Chinesen, Vietnamesen, Inder, Bangladeschis und vor allem Ägypter, immer wieder Ägypter. Die tunesischen Beamten schauen kaum in den Pass. Sie winken freundlich durch.


Die Gesichter der Neuankömmlinge sprechen von Erschöpfung, von Angst, aber auch von Erleichterung. Manche betreten Tunesien schweigend. Andere bedanken sich bei den Grenzern mit einem Lächeln oder mit Tränen in den Augen. Hinter ihnen liegen Tage der Ungewissheit, Tage der Verzweiflung angesichts des Bürgerkrieges, der Libyen nun seit fast zwei Wochen im Griff hat. Und sie lassen vor allem ein Leben zurück, ein Leben als Immigrant, das jetzt endgültig vorbei zu sein scheint.

„Die mögen keine Ausländer mehr. Und vor allem uns Ägypter hassen sie plötzlich“, berichtet Aid Sahat. Die Polizei Gadsafis sehe in ihnen ein Gefahr, seit die Revolution vom Tahrir-Platz der mehr als drei Jahrzehnten dauernden Herrschaft des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak ein Ende bereitet hat.

Der 30-jährige kleine, stämmige Mann arbeitete seit ein ein halb Jahren an der Gepäckaufgabe am Sammeltaxibahnhof in Tripolis. „Ich hatte nur noch Angst“, sagt er. Auf der Straße habe er immer wieder Schüsse gehört. Er habe sein Zimmer in Tripolis seit Tagen nicht mehr verlassen. „Ich bin in einem Privat-PKW gekommen“, fährt er fort. 150 Dinar, umgerechnet 75 Euro, kostete die Reise pro Person. Durch seine Arbeit weiss er, dass dies fünf mal so viel ist, wie in normalen Zeiten: „Unterwegs hat uns die Polizei alles abgenommen, unser Geld, das Handy, Speicherkarten.“

Bei sich in Südägypten gab es keine Arbeit. Mit seinem Lohn aus Libyen konnte er seiner Frau und seiner Tochter monatlich etwas Geld schicken. Jetzt hat er alles dabei, was ihm geblieben ist, einen schweren Koffer, eine überdimensionale Tasche und ein Ventilator. Sein Chef blieb ihm selbst den letzten Lohn schuldig. „Nach Ägypten ausreisen? Abwarten ob es besser wird und dann zurück nach Tripolis? Ich weiß nicht was ich tun soll“, sagt Sahat noch, bevor er in Richtung einem Schild verschwindet, das ein Stück weiter die Reisenden mit einem „Herzlich Willkommen in Tunesien“ begrüsst.


Auf einem anderen sind die gültigen Verkehrsregeln erklärt. Nur, Autos kommen hier schon lange keine mehr durch. Auf der Fahrbahn, die Seitenstreifen, die umliegenden Dünen sitzen Zehntausende auf ihren Gepäckstücken, schlafen auf Decken, oder haben sich notdürftige Zelte aus Ästen, Beduinenhalstüchern und irgendwelchen Stoffen zusammengezimmert. Fliegende Händler verkaufen Zigaretten. Der Schwarzmarkt für den Wechsel libyscher Dinare in tunesische Dinare blüht. Die drei Handyunternehmen Tunesiens haben Stände aufgebaut, an denen sie für umgerechnet 2 Euro 50 Prepay-Karten verkaufen. Sie finden reissenden Absatz. Jeder versucht die Familie zu Hause zu beruhigen oder einen Freund und Kollegen wiederzufinden, der ebenfalls aus Libyen ausgereist ist. Überall liegt Müll. Eine Tonne fällt pro Tag an.

Mitten in diesem Durcheinander lebt Osama Hassan Zidan aus dem ägyptischen Mansoura – nördlich von Kairo – mit einer Gruppe von Freunden und Kollegen, die alle zusammen vor fünf Tagen aus Tripolis gekommen sind. „Bei uns auf der Avenue Omar Mokhtar im Norden der Stadt waren ständig Schüsse zu hören“, berichtet der 32-jährige Möbelschreiner. Gerüchte von Toten im Stadtteil seien ihnen zu Ohren gekommen. „Ab 17 Uhr herrschte völlige Ausgangssperre. Schwarzafrikanische Söldner patrouillierten den ganzen Tag.“


Auch die Flucht an die Grenze sei gefährlich gewesen. Die Städte auf dem Weg von Tripolis nach Rass Ajdir seien zwar in den Händen der Aufständischen, doch die Straße ist unter Kontrolle der Armee Gaddafis. „Vor allem gegen Abend kommt es immer wieder zu Gefechten“, weiß Zidan zu berichten. 320 Kontrollpunkte von Armee, Polizei und Söldnern will er auf den 180 Kilometern von der libyschen Hauptstadt nach Tunesien gesehen haben. Auch ihm wurde Handy und Geld abgenommen: „Ich habe 600 Dinar verloren. Sie haben mir gesagt: ‚Das ist libysches Geld. Wenn du es dir verdienen willst, kämpfe für Oberst Gaddafi.’“

Er weiß nicht, wie lange er hier an der Grenze noch ausharren muss, bevor er ausgeflogen oder mit dem Schiff nach Hause gebracht wird. Zidan beklagt sich dennoch nicht. „Ich bin den Tunesiern dankbar für das, was sie für uns tun. Die Lage hier ist sicher schlimm. Aber dort drüben war es viel, viel schlimmer“, sagt er bevor er noch „allen Ägyptern dringend empfiehlt, auszureisen, solange es noch geht“.

Längst nicht alle sind so geduldig wie Zidan. Wenige Meter neben dem Übergang, dort wo in Zelten Lebensmittel an die Flüchtlinge verteilt werden, bilden sich immer wieder spontane Gruppen, die mit ägyptischen Fahnen durch die Menge laufen. „Wo ist unsere Regierung“ rufen sie. „Seit sieben Tagen alleingelassen“, heißt es auf dem Pappschild eines jungen Mannes, dem die Tage an der Sonne und vor allem die langen kalten Nächte hier am Rande der Sahara anzusehen sind.

„Alleingelassen“, das ist auch das Wort, das Djamel Yahia am meisten benutzt. Der Lehrer für Arabisch an einem Gymnasium am ersten Ort auf tunesischer Seite, dem 30 Kilometer entfernten Städtchen Ben Gardane, gehört dem örtlichen Koranverein an. „In den ersten Tagen waren wir völlig auf uns alleine gestellt“, berichtet der Helfer der ersten Stunde.

Zuerst kamen Tausende von Tunesiern an der Grenze an, dann die Massen von Ägyptern. Weit über 100.000 Menschen sind bisher in Tunesien angekommen. An manchen Tagen waren es bis zu 15.000. „Reisende“, nennt Yahia diese Menschen. Das Wort „Flüchtlinge“ gefällt ihm nicht.

Das Revolutionskomitee, das seit dem Sturz des alten Regimes die 80.000 Einwohner-Gemeinde Ben Gardane verwaltet, mobilisierte die lokalen Vereine, das städtische Krankenhaus und sammelte Spenden unter der örtlichen Bevölkerung. „Nach und nach kamen dann Hilfskonvois aus dem restlichen Tunesien“, berichtet Yahia. Lokale Radios, Aufrufe im Facebook, Moscheen, Unternehmen, Schulen und Universitäten organisieren die spontane Hilfe. Mit Pick-Up-Trucks, Taxen, privaten PKWs und selbst mit großen LKWs bringe sie Decken, Matratzen und vor allem Nahrungsmittel. Die Hilfsgüter füllen eine riesige Halle, an der die Grenzer normalerweise den Schwerlastverkehr von Libyen nach Tunesien kontrollieren. Überall in dem völlig unübersichtlichen Menschengewühl stehen Zelte, wie das des Koranvereins. Hier werden Mahlzeiten ausgegeben, Wasser, Milch und Säfte veerteilt. „Wir brauchen dringend Transportmittel, um die Menschen hier wegzuschaffen“, sagt Yahia.

Ununterbrochen bringen Busse der Verkehrsbetriebe aus der Hauptstadt Tunis Menschen zum Flughafen auf der Urlaubsinsel Djerba, zwei Autostunden nördlich der Grenze. Um die 40 Flugzeuge verlassen täglich das Land Richtung Ägypten. Vom Hafen in Zarzis, auf halbem Wege legen Schiffe Richtung Ägypten ab. Doch es ist einfach nicht genug. Es kommen mehr Menschen an, als weggebracht werden können. „Ohne internationale Unterstützung wird dies Monate dauern“, glaubt Yahia.

Die Europäische Union und das UN-Flüchtlingshilfswerk kommen nur langsam in Gang. Erst Ende dieser Woche stellten sie ein Hilfsprogramm auf. Die EU verdreifachte die Soforthilfe für auf 30 Millionen Euro. Die UN, das Rote Kreuz und die humanitäre Organisation Islamic Relief haben erste Zeltstädte errichtet. Die deutsche Bundeswehr hat jetzt drei Schiffe versprochen. Die USA und Frankreich haben angekündigt, Flüchtlinge aus Tunesien auszufliegen.


„Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“, warnt Ali Tlig. Der 48-jährige Krankenpfleger vom Krankenhaus in Ben Gardane errichtete bereits in den ersten Tagen der Flüchtlingskrise mit Kollegen und Mitgliedern des tunesischen Zivilschutz eine Feldapotheke. „Über 3000 Kranke haben wir bisher versorgt“, berichtet er. Hitzeschlag, Probleme mit der Kälte, chronisch Kranke ohne Medikamente, Durchfallerkrankungen … die Liste ist lang. „Mit jedem Tag, der vergeht steigt die Gefahr einer Epidemie“, befürchtet Tlig. Wie alle anderen Helfer auch arbeitet er mit Atemschutzmaske und Handschuhen. Die schlechte Luft, die über der Menschenansammlung liegt, lässt ahnen, dass dies keine übertriebene Maßnahme ist.

„Bisher haben wir hier vor allem Journalisten gesehen, aber kaum ausländische Helfer“, beschwert sich Tlig. Auch er fühlt sich „alleingelassen“. „Tunesien ist in einer prekären Situation“, mahnt er. Nach der Revolution vom 14. Januar sei der Staat so gut wie zusammengebrochen, das Land im Umbruch und Neuaufbau. „Ich habe eine so breite Solidarität der tunesischen Bevölkerung noch nie erlebt. Unter der Diktatur wäre so etwas unmöglich gewesen“, fügt er nach kurzer Pause mit Stolz in der Stimme hinzu.

Nachdem er an ein paar Soldaten Masken ausgeteilt hat, kommt Tlig zurück. „Wenn wir über Menschenrechte reden, sind USA und die EU Weltmeister. Aber wenn es um konkretes Handeln geht, wo bleiben sie dann?“ fragt er zum Abschied. Über seinem Medikamentenregal prangt die tunesische Fahne.

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