© 2010 Reiner Wandler

Spanien auf WM Kurs


So ruhig war es im Gassengewirr der Madrider Altstadt schon lange nicht mehr. Dort wo die spanische Hauptstadt am multikulturellsten ist und wo der Flohmarkt jeden Sonntag Zehntausende anzieht, war keine Menschenseele auf der Straße. Die Geschäfte schlossen früher als sonst, schließlich stand Spanien im Achtelfinale gegen den iberischen Nachbarn Portugal. Nur die Statue von Eloy Gonzalo, dem Helden aus dem Krieg um Kuba, der letzten spanischen Kolonie in Amerika, hielt einsam Wache, mit seiner rot-gelb-roten Fahne, die ihm die Anwohner nach dem verlorenen WM-Auftakt gegen die Schweiz trotzig in die Hand gedrückt hatten.

Aus den Kneipen und von den Balkonen ringsherum klangen die aufgeregten Stimmen von gleich drei Fernsehmoderatoren, die der übertragende Sender aufgeboten hatte. Doch trotz des geballten Fachwissens wurde es über lange Strecken eine Zitterpartie. „Wir müssen auf alles vorbereitet sein, auf Verlängerung, Elfmeterschießen, einfach alles“, gab einer der Sprecher den Anhängern der Roja – der Roten – wie die Spanier ihre Nationalelf nennen, mit in die Halbzeitpause. Es stand noch immer 0:0.

Es war ein überflüssiger Ratschlag. Denn jeder in Spanien kann Geschichten erzählen, wie ein Missgeschick in letzter Minute alle Träume zunichte machte. Nur einmal war es anders. Vor zwei Jahren, als die Spanier nach einem bravurösen Turnier gegen Deutschland die Europameisterschaft gewannen.

Seit jener EM-Nacht predigt Spaniens Presse ununterbrochen: „Wir sind Favoriten für den Weltmeistertitel.“ Doch was zum Durchmarsch werden sollte, stoppte bereits beim Auftaktspiel gegen die Schweiz. Jede weitere Begegnung wurde so zu einem Endspiel. La Roja hat die Aufgabe bisher gemeistert auch wenn das Spiel darunter gelitten hat. Nur selten sind die schnellen Kombinationen zu sehen, für die Spaniens Elf berühmt und gefürchtet ist.

Das war auch gegen Portugal nicht anders. So entspannten sich die Fans nach dem 1:0 von David Villa nur wenig. Es wollte einfach kein zweiter Treffer den Weg ins Netz finden. Die Portugiesen verteidigten gut und sie blieben gefährlich, auch wenn dem in Spaniens Liga so gefürchteten Wunderstürmer Cristiano Ronaldo nichts gelingen wollte. Als das Spiel endlich um war, löste sich die Anspannung in Freundenrufe und Umarmungen. Der Platz in der Madrider Altstadt füllte sich. Eloy Gonzalo und seine Fahne bekamen Gesellschaft. „Durchgestartet für die Weltmeisterschaft“ verpackt die Sportzeitung Marca das Gefühl der Anhänger in Worte.

„Wir wollen Geschichte machen“, verspricht Nationaltrainer Vicente del Bosque nur wenige Minuten nach dem Abpfiff in Kapstadt. Auch er klingt erleichtert und fast schon überschwänglich, ungewöhnlich für den sonst so ruhigen, ehemalige Coach von Real Madrid. Die spanischen Fans glauben es ihm und fiebern mit, wie nie zuvor.

Von Spiel zu Spiel vermehren sich die Fahnen im Straßenbild. Die Fanmeile vor dem Bernabeu-Stadion in Madrid muss ständig ausgebaut werden, die Einschaltquoten sind so hoch wie bei keiner WM zuvor. Es liegt etwas in der Luft. Diese Mannschaft ist nicht wie die anderen. Sie ist jung, hat Hunger auf Titel und weiß bis zum letzten Moment zu kämpfen. Eine Tugend, die bei Spaniens Nationalelf nicht immer üblich war.

Und es ist die Nationalmannschaft der Spieler des FC Barcelona. Der wohl schönste Vereinsfußball Europas färbt auf La Roja ab – sobald sie zu ihrem Spiel findet. Auch wenn der Bürgermeister in der katalanischen Hauptstadt Barcelona die Genehmigung für Großleinwände zur Übertragung der Spanienspiele verweigert, hat die Begeisterung für La Roja auch die Menschen im sonst so eigensinnigen Nordosten Spaniens, wo die Nationalelf nicht einmal Freundschaftsspiele austragen kann, ergriffen. Der Fußball macht die sonst so gehasste Marke España beliebt, zum Leidwesen der Nationalisten. Die Fernsehquoten zeigen dies.

Im benachbarten Portugal ist derweilen die ewige Saudade – die Melancholie, in der die Portugiesen so gerne schwelgen – zurück. Nach der goldenen Generation mit Figo und Rui Costa ist jetzt eine neue Mannschaft brillanter Balltechniker um Cristiano Ronaldo gescheitert. „Den Portugiesen erklären, was passiert ist? Sprechen sie mit Queiroz“, brummelte der gescheiterte Starstürmer vor sich hin, bevor er ohne weitere Erklärungen das Stadion in Kapstadt verließ.

„Das afrikanische Abenteuer endete auf den Füßen von Villa und mit der Strategie von Queiroz“, schlägt Portugals wichtigste Tageszeitung Público in die gleiche Kerbe. Nationalcoach Carlos Queiroz, der seinen spanischen Kollegen Del Bosque einst von der Trainerbank bei Real Madrid verdrängte, um selbst bald erfolglos in Ungnade zu fallen, sprach ganz offen von „einem verdienten Sieg der Spanier“. Wie es mit ihm und seiner Elf weitergeht, war nach der Niederlage – noch – kein Thema.

Für die spanische Elf kommt jetzt eine kleine Verschnaufpause. Im Viertelfinale geht es gegen Paraguay, und damit gegen den leichtesten Gegner unter den verbleibenden acht. Längst machen sich die Fans Gedanken, wer der Wunschgegner fürs Halbfinale sei. Deutschland und Argentinien stehen zur Auswahl. Und in einem möglichen Finale … doch soweit traut sich keiner vorrauszuschauen, auch wenn Del Bosque verspricht: „So wie wir spielen, kann uns niemand stoppen.“

Die Spanier kennen eben nur zu gut die ewige Geschichte der großen Heldentaten und der Missgeschicke im letzten Moment. So etwas sitzt tief. Auch Kriegsheld Eloy Gonzalo, der in Madrids Altstadt die rot-gelb-rote Fahne zumindest bis zum Viertelfinale am Samstag tragen wird, gewann in einer gewagten Einzelaktion eine ganze Schlacht. Der Kubakrieg ging zwei Jahre später, 1898, dennoch verloren.

Was bisher geschah: