© 2010 Reiner Wandler

Gegen die Straffreiheit


„73 Jahre vergebliches Warten auf Gerechtigkeit!“ – Das Plakat, das die alte Frau in die Höhe streckte, brachte auf den Punkt, was am Samstag Zehntausende Menschen in 21 spanischen und sieben ausländischen Städten auf die Straße trieb. Es war mehr als die Solidarität mit Richter Baltasar Garzón, der wegen seiner Ermittlungen von mindestens 113.000 Fälle von Verschwundenen während des spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) und der Jahren danach vom Obersten Gerichtshof in Madrid wegen Rechtsbeugung angeklagt ist. Die Demonstrationen waren ein Ruf nach Gerechtigkeit für die Opfer der faschistischen Truppen von General Francisco Franco und der knapp 40 Jahre dauernden Diktatur.

An der größten Protestaktion in Madrid beteiligten sich je nach Quelle zwischen 60.000 und 100.000 Menschen. Ganze Familien marschierten mit. Großeltern, Eltern, Enkel trugen Fotos ihrer Verschwundenen sowie die berühmter Opfer der Diktatur, wie des Poeten Federico García Lorca, des Präsidenten der Regierung Kataloniens, Lluís Companys, oder des Kommunisten Julián Grimau. Die Farbe der Demonstration war das Rot-Gelb-Purpur der Fahne der von Franco gestürzten Republik.

„Die Zivilgesellschaft hat sich heute in ganz Spanien versammelt, um das Anliegen der Opfer des frankistischen Terrors zu unterstützen, und um für die Würde von Hunderttausenden Frauen und Männern einzutreten, die ihr Leben für die Freiheit und Demokratie in unserem Land gegeben haben“, begann das Abschiedsmanifest, das von Spaniens bekanntesten Filmregisseur Pedro Almodóvar, der Schriftstellerin Almudena Grandes und dem Poeten und ehemaligen politischen Gefangenen Marcos Ana verlesen wurde.


„Es gibt keine Amnestie für Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, mahnte Reed Brody Spaniens Obersten Gerichtshof, der Garzón vorwirft trotz Amnestiegesetzt von 1977 die Vergangenheit untersucht zu haben. Der Sprecher der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf Spanien unter tosendem Applaus vor „mit zweierlei Maß zu messen“. Zum einen habe Garzón die Menschenrechtsverletzungen der Diktaturen in Chile und Argentinien untersucht und damit das Prinzip der universellen Gerechtigkeit einen großen Schritt weiter gebracht, zum anderen würde Spanien im eigenen Land diese Kriterien nicht anwenden.


Auch auf internationaler Ebene kam Spanien am Wochenende unter Druck. „Das Land, das den Weg der universellen Gerechtigkeit öffnete, ist kurz davor zu einem Beispiel für universelle Ungerechtigkeit zu werden“, heißt es in einem Protestschreiben, das die Teilnehmer des von der UNO organisierten „Weltkongress zur psychosozialen Aufarbeitung des Verschwindenlassens, des Prozesses der Exhumierung, der Justiz und der Wahrheit“ im kolumbianischen Bogotá zur Unterstützung Garzóns verabschiedeten. Das Dokument wurde von der UNO sowie von Vertretern von 26 Ländern – unter ihnen die USA, Argentinien, Chile, Afghanistan und Nepal – unterzeichnet.

Die Kundgebung in Madrid endete mit einer Schweigeminute im Gedenken an die Opfer des Franquismus. „Keine Straffreiheit“, halte es dann durch Madrids Innenstadt.


Meine Meinung
Das Ende des Schweigens

Es war ein ungeheuerlicher Tabubruch, den Spanien am Samstag erlebte. Was ursprünglich als Solidarität für Richter Baltasar Garzón gedacht war, der wegen seiner Ermittlungen der Verbrechen der Franco-Diktatur jetzt der Rechtsbeugung angeklagt ist, wurde zu einem kollektiven Schrei nach Gerechtigkeit. Eine Gerechtigkeit, die es so niemals geben sollte. Denn einer der Eckpfeiler der Transición – des Übergangs Spaniens zur Demokratie nach dem Tod von General Franco 1975 – war das Vergessen, die Amnestie für alle politisch motivierten Verbrechen.

Die Opfer und ihre Nachfahren wollen dies nicht mehr länger hinnehmen. Die gezielten Säuberungswellen der Faschisten gegen alle die ihnen als „Rote“ galten, ist in ihren Augen ein Genozid, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und diese verjähren nicht und für sie gibt es auch keinerlei Amnestie.

Es ist eine Basisbewegung, die da zusammenfand. Zaghaft unterstützen auch Politiker aus den Reihen der regierenden Sozialisten Richter Garzón. Doch nicht nur der politischen Rechten Spaniens, auch so manchem Sozialisten geht, das was am Samstag passierte zu weit. Spanien habe mit der Transición und der Amnestie Großzügigkeit bewiesen. Dies dürfe jetzt nicht aufs Spiel gesetzt werden, schreiben bekannte Politiker auf den Seiten der Tageszeitung El País. So mancher setzt darauf, dass der Oberste Gerichtshof die Klage gegen Garzón doch noch einstellen könnte, und dann alles wieder zur Normalität – zum Schweigen – zurückkehrt.

Doch dies könnte sich als Trugschluss erweisen. „Keine Straffreiheit“ forderten die Teilnehmer der Demonstrationen. Ihnen ist das von der aktuellen Regierung verabschiedete Gesetz zur Historischen Gedenken zu wenig. Das ehrt zwar die Opfer, verspricht auch Unterstützung bei der Suche nach den Verschwundenen, aber ohne dass die Täter zur Rechenschaft gezogen, ja ohne dass Richter eingeschaltet werden.

Die Opfer und ihre Angehörigen haben sich auf der Straße gefunden und gemerkt, dass sie mit ihrem tiefen Schmerz nicht alleine sind. Jahrzehntelang hatten sie geschluckt, geschwiegen. Eine Aussöhnung ohne Gerechtigkeit – wie sie Spanien versuchte – kann es nicht geben. Nach den Demonstrationen vom Samstag wird nichts mehr sein, wie es war.


Was bisher geschah: