Von der Vernichtung des Anderen
Boualem Sansals neuer Roman „Das Dorf des Deutschen“ bricht Tabus
Wenn ein arabischer Autor über den Holocaust schreibt, ist das eigentlich schon Tabubruch genug. Wenn er dann auch noch hergeht und Parallelen zwischen der Mentalität der Nazis und der der radikalen Islamisten zieht, braucht es eine gehörige Portion Mut und literarischem Geschick. Der Algerier Boualem Sansal beweist in seinem neuesten Roman „Das Dorf des Deutschen“ beides.
Er erzählt die Geschichte der beiden Brüder Rachel und Malrich. Aufgewachsen in einem kleinen algerischen Dorf leben sie in den Vorstädten von Paris. Ihr Vater ist Deutscher ihre Mutter Algerierin. Als die Eltern Opfer eines von Islamisten verübten Massakers werden, fährt Rachel zurück in die Heimat. Er findet einen Koffer voller Unterlagen, die für ihn alles zum Einstürzen bringen, an was er bisher geglaubt hat. Sein Vater Hans Schiller, oder Scheich Hassan, wie der ehemalige Ausbilder der algerischen Befreiungsarmee im Dorf genannt wird, war nicht nur der Held der algerischen Unabhängigkeit, als den ihn die beiden Söhne ein Leben lang respektierten und bewunderten. Er hatte ein schreckliches, wohlgehütetes Geheimnis. Hans Schiller war Mitglied der SS. Als Chemiker wurde er in den Vernichtungslager der Nazis eingesetzt und war damit am Tod von Hunderttausenden von Juden beteiligt.
Sansal bedient sich der Form des Tagebuchs. Er lässt Malrich, den Jüngeren der beiden, erzählen. Dieser stellt nach dem Tod seines Bruders seine eigenen Nachforschungen an. Die ungeheure Schuld des Vaters und die immer unerträglichere, alltägliche Situation in der Vorstadt, der Terror in der fernen Heimat, verweben sich zu einem fein abgestimmten Netz. Das Ergebnis ist ein Buch, das unbequeme Themen aufwirft und klare, und vor allem schmerzhafte Antworten einfordert.
„Da stehe ich vor dieser Frage, die so alt ist wie die Welt: Müssen wir Rechenschaft ablegen für die Verbrechen unserer Väter?“ bohrt das grauenhafte Wissen in Rachel. Während er diese Frage mit Ja beantwortet und ihn die intensive Nachforschungen in völlige Verzweiflung und schließlich im Selbstmord stürzen, nimmt Malrich die Schuld des Vaters nicht an. Er nutzt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vielmehr, um im alltäglichen Konflikt mit den Islamisten in den Vorstädten zu bestehen und um sich das heutige Algerien zu erklären.
„Kannten die Autoritäten Papas Vergangenheit? (…) Und die Dorfbewohner?“ lässt Sansal Malrich fragen. Anstatt eine klare Antwort zu geben, berichtet Malrich von seinen Jahren in der Jugend der FLN, der algerischen Einheitspartei berichten, wo er auf Hass gegen die Juden eingeschworen wurde – der Antisemitismus als Staatsdoktrin, die bei Teilen der Bevölkerung bis hin zur Identifikation mit den Nazis reicht.
„Das Dorf des Deutschen“ zeigt das gefährliche Spiel des arabischen Nationalismus mit Antisemitismus und Nazismus auf. Die Geschichte des Deutschen Hans Schiller hat so oder so ähnlich zu Hunderten stattgefunden. Einer der Fluchtwege für gesuchte Nazischerken führte nach der Zerschlagung Hitlerdeutschlands über die Türkei nach Kairo. Wie Hans Schiller in Sansals Roman wurden sie dort oft von Geheimdiensten und Unabhängigkeitsbewegungen angeheuert. Dieses Thema ist bis heute ein Tabu in Ländern wie Ägypten oder Algerien.
Auch die Parallelen, die Sansal mit dem Islamismus zieht, zielen auf die Herrschenden in seinem Land Algerien. Zu lange habe sie die Radikalen gewähren lassen. Mit ihrer religiös motivierten Repression, sollten sie diejenigen niederhalten, die nach einer tatsächlichen Befreiung strebten. Ein teuflisches Spiel, dass Sansal immer wieder zum Thema seiner Arbeiten macht.
Sansals Buch ist aber auch eine Kritik an der fehlgeschlagenen Integrationspolitik in Frankreich. Die staatlichen Stellen schauen weg, als die Islamisten von ihren Kellermoscheen aus immer mehr die soziale Kontrolle über die Vorstädte gewinnen. „Ich sage mir, dass es unmöglich ist, aber wenn ich sehe, was die Islamisten bei uns und anderswo veranstalten, sage ich mir, dass sie die Nazis übertreffen werden, wenn sie eines Tages an der Macht sind. Sie sind erfüllt von Hass und von Anmaßung …“, warnt Sansal. Als letzter der bekannten Schriftsteller Algeriens, der seine Heimat nicht verlassen hat, weiß er von was er spricht.
Boualem Sansal: „Das Dorf des Deutschen“, Roman, aus dem Französischen von Ulrich Zieger, 280 S., Ln., € 22,90 / sfrs. 41,50 ISBN 978-3-87536-270-1 Merlin Verlag, Gifkendorf, Mai 2009
Der Autor auf Lesereise:
08.06.2009 Kassel Universität (mit Prof. Werner Ruf)
09.06.2009 Berlin LCB
10.06.2009 Lüneburg Literaturbüro / Heine-Haus
11.06.2009 Hannover Literaturbüro / Künstlerhaus
12.06.2009 Bremen Buchhandlung Geist
13.06.2009 Tübingen Institut Francais
15.06.2009 Essen Institut Francais
16.06.2009 Köln Literaturhaus
17.06.2009 München Literaturhaus
18.06.2009 Stuttgart Institut Francais
19.06.2009 Heidelberg Literaturtage
20.06.2009 Frankfurt /M. N. N.