© 2008 Reiner Wandler

Buchtipp (2)

Boualem Sansal hat eine einfache und doch schwierige Frage an seine Landsleute. „Was geht da eigentlich vor sich?“, will der Schriftsteller aus Boumerdes, 40 Kilometer östlich von Algier, in seinem neuesten Werk wissen. Einer der letzten noch im Lande lebenden kritischen Autoren schreibt einen offenen Brief an seine Landsleute, eine 55 Seiten starke Streitschrift mit dem Titel „Postlagernd: Algier“.

„Im Grunde genommen haben wir nie Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen, ich will damit sagen unter uns Algeriern, frei heraus, ernsthaft, mit Methode, ohne Vorbehalte …“, beginnt Sansal seinen Brief. „Ein ganzes Menschenleben ist vergangen, zwei womöglich, wahrscheinlich mehr, und noch immer halten wir den Mund, jeder in seiner Ecke …“ Sansal bricht aus der seinigen aus.

Er schreibt darüber, was ihn nach einem Jahrzehnt blutigen Bürgerkrieges, der 200.000 Menschenleben gefordert hat, quält. Der in Frankreich preisgekrönte und in Algerien von den Herrschenden gehasste Autor kritisiert die „großen Führer […] mit dieser unerträglichen Verachtung im Mundwinkel“, die darüber wachen, was die Algerier über ihr Land und die Herrschenden denken. Er analysiert die „nationalen Konstanten“ des unabhängigen Algeriens, den Islam als Staatsreligion, die arabische Zwangskultur, die Minderheiten ausschließt, und die „revolutionäre Familie“, wie die ehemalige Einheitspartei FLN und deren Machtgefüge gerne genannt wird.

Anlass für die ungewöhnlich mutige und harte Abrechnung mit dem Regime seines Landes war der 29. September 2005, der Tag, an dem Präsident Abdelasis Bouteflika per Volksabstimmung die bewaffneten Islamisten und deren Hintermänner amnestieren ließ. Wahlbeteiligung und Ergebnis waren nur allzu offensichtlich gefälscht. „Aber warum haben wir nicht reagiert?“, fragt Sansal entsetzt. „Neurotische Islamisten in Massen zu amnestieren und skrupellose, im Staatsapparat verkrochene Hintermänner weiß zu waschen ist nicht das selbe wie einen aufgezwungenen Präsidenten zu wählen …“

Es ist nicht das erste Mal, dass Sansal mit den Herrschenden ins Gericht geht. Seine vier Romane, die alle auch auf Deutsch vorliegen, handeln immer wieder vom algerische Drama. Für Sansal, der ein hoher Beamter im Industrieministerium war, im Alter von 50 Jahren zu schreiben begann und wegen seiner spitzen Feder in Ungnade fiel, beginnt der Niedergang Algeriens bereits am Tag nach der Unabhängigkeit. „Bankraub des Jahrhunderts“ nennt er die Machtübernahme derer, die in den Nachbarländern abwarteten, bis die Landsleute im Innern die französischen Kolonialherren vertrieben hatten, um dann die Macht einzunehmen und sie bis heute nicht abzugeben. „Der Kampf des algerischen Volkes für seine Unabhängigkeit wurde noch am Tag der Feuereinstellung, jenem berühmten 19. März 1962, privatisiert.“

Momente der Freiheit gab es nur wenige. Die Kontrolle der Einheitspartei FLN war allmächtig, bis Ende der Achtzigerjahre. Neue Parteien wurden zugelassen, unter ihnen die Islamische Heilsfront (FIS), die 1991/92 die Wahlen gewann. Der Urnengang wurde abgebrochen. Das Land versank in einem Blutrausch, in dem bald nicht mehr klar war, wer wen warum tötete. „Das Böse hat das Gute vor unseren Augen überflutet, nichts ist tragischer“, konstatiert Sansal, und wirft der internationalen Öffentlichkeit Untätigkeit vor. „Unsere Stellung in der Welt ist die eines Erdöl produzierenden Landes. Diejenigen, die es uns abkaufen, stellen keine anderen Fragen als die seines Preises, seiner Qualität, seiner Verfügbarkeit …“

Algerien ist heute ein Land, in dem die Menschen die Hoffnung verloren haben und die Jugend nur vom Auswandern träumt. Der Autor von „Postlagernd: Algier“ weiß, dass es nicht leicht ist, die Hoffnung zurückzugewinnen. Das ist auch gar nicht das Ziel des brillant geschrieben Bändchens – einer Streitschrift ganz im Stile der großen französischen Essays. Sansals in Frankreich erschienenes Buch, das in Algerien, wenn überhaupt, nur unter der Ladentheke zu finden ist, will in einem ersten Schritt das Schweigen brechen. Gleichzeitig warnt er vor erneuter Gewalt, die in Algerien immer dann aufblüht, wenn die Lage allzu ausweglos erscheint. „In diesem Stadium geht es uns nicht darum, zu den Waffen zu greifen, sondern darum, uns von unserer Auffassung von Wahrheit und Freiheit zu überzeugen. Den Rest bekommen wir geschenkt“, gibt Sansal seinen Landsleuten mit auf den Weg.

Boualem Sansal: „Postlagernd: Algier. Zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute“. Aus dem Französischen von Ulrich Zieger. Merlin Verlag, Gifkendorf 2008, 60 Seiten, 8,90 Euro

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