© 2007 Reiner Wandler

Die Cyber-Oma

„Internetfreunde, heute werde ich 95 Jahre alt“, beginnt María Amelia López ihren Blog (amis95.blogspot.com). Es war am 23. Dezember 2006. „Mein Enkel, der ziemlich geizig ist, hat mir diesen Blog geschenkt“, erklärt die Großmutter aus Muxia an der Costa da Morte im nordwestspanischen Galicien, wie sie zu einem Internettagebuch kam. Nicht einmal ein Jahr später ist María Amelia ein Cyberstar in Spanien. Knapp 900.000mal wurde der Blog bisher angeklickt. In aller Welt berichten Zeitungen, Internetmagazine und webs von der ältesten Bloggerin Spaniens – und vermutlich auch der Welt. Dieses Jahr erhielt sie den auf der iberischen Halbinsel prestigereichen PREMIO BOB’s 2007 für den besten spanischsprachigen blog.
Von ihrer Wohnung in Muxia aus – der Ort gelangte durch den Untergang des Tankschiffes Prestige 2002 zu trauriger Berühmtheit – gibt sie ihre Sicht der Welt preis. Täglich kommen neue Texte, Fotos und Filme dazu. Wer lieber hören will, wie die Rentnerin ihren Post des Tages vorliest, der kann auf angehängte Audiodateis klicken.

Die Alte spart nichts aus: Sie wettert gegen Drogen, die in ihrer Heimat Galicien, wo die größten europäischen Schmugglerkartelle zu Hause sind, so viel Schaden angerichtet haben. Oder sie schreibt gegen den „Botellón“, den Massenbesäufnissen, die Wochenende für Wochenende Spaniens Jugend auf Plätzen und an Stränden abhält. „Das nennen sie Freizeitspaß. Das ist kein Spaß, das ist einfach verrückt.“ – „Ich habe den Fernseher ausgeschaltet. Unangenehme Sachen schaue ich mir nicht an“, berichtet María Amelia, nachdem eine der omnipräsenten Talk- und Herz-Schmerz-Shows wieder einmal über eine Persönlichkeit fortgeschrittenen Alters hergezogen war. „Eine Mutter in diesem Alter hat nicht mehr den jugendlichen Geist um ein Kind zu erziehen“, urteilt sie, über die Nachricht einer Frau, die mit 67 noch einmal Nachwuchs bekommen hatte. Manchmal erfreut sich María Amelia auch einfach nur des Lebens. Dann berichtet sie über ihr Dorf, den Blick auf den Atlantik und die durch ihr Alter leider immer kürzeren Spaziergänge. „Ihr wisst gar nicht wie glücklich ich heute war. Und ich habe an euch alle gedacht“, grüßt sie dann ihre Leser.

Doch was wäre eine Bloggerin ohne Artikel über das Medium Internet selbst. „Sie sagen, dass das Internet so viel Schlechtes hat. Aber es liegt doch an uns Menschen, nicht die schlechten Sachen anzunehmen“, schreibt María Amelia, die mit 95 im WWW endlich das entdeckt hat, was ihr ein Leben lang verwehrt war. „Mein Vater sagte immer: Du wurdest geboren und wolltest von Anfang an sehen, was du nicht sehen kannst. Ja, ich wollte immer reisen und andere Länder kennen lernen. Aber klar, ich hatte nicht die Freiheit dies zu tun. Meine Eltern ließen mich nicht einfach herumziehen, um zu arbeiten und zu leben, wo ich Lust hatte, so wie das heute üblich ist. Hätte ich damals schon Internet gehabt, hätte ich meine Eltern sicher respektiert, aber ich hätte nicht so sehr auf sie gehorcht, denn Internet bringt dir bei, zu leben. Und zu entscheiden.“ /Foto: Screenshot/ www.amis95.blogspot.com

Was bisher geschah: