© 2007 Reiner Wandler

Pikes Peak or Bust

 

Der Empfang ist überraschend. Teresa begrüßt uns nicht mit dem sonst in den USA üblichen „Hey Folks, how are you?“ sondern mit einem „Hallo wie geht’s?“. Sie habe acht Jahre in der Eifel gelebt, erklärt die freundliche Wirtin im Barr Camp auf 3.100 Meter Höhe. Mit ihrem Lebensgefährten Neal, der wie sie mit der US-Airforce in Deutschland stationiert war, bewirtet Teresa die Hütte mitten im Wald am Hang des Pikes Peak, einem Berg in den Rocky Mountains, unweit von Colorado Springs. Die beiden laden zu Kaffee und Selbstgebackenem im Aufenthaltsraum. Sofas mit bunten Decken, Sessel, ein kleiner Tisch, vor der Hütte ein Garten und eine Terrasse … die Ex-GIs haben es sich gemütlich gemacht 1.100 Höhenmeter über Manitou Springs, einem kleinen Westerndorf, dem Ausganspunkt der Zwei-Tages-Wanderung.

Mangel an Besuchern kennen die zwei Aussteiger nicht. Denn der Pikes Peak ist nicht irgendein Berg. Mit seinen 4.301 Metern Höhe gehört er zu den „Fourteeners“, den 14.000ern – in Fuß versteht sich. Alleine in den Rocky Mountains im Staate Colorado überragen 53 Berge diese Quote. Sie sind dem amerikanischen Bergwanderer das, was dem Europäer die 4000er sind. Mit einem erheblichen Unterschied: Weicht in den Alpen die Vegetation spätestens ab 2.500 Metern Fels und Eis, wachsen hier bis auf 3.700 Meter Bäume. Danach geht es in die alpine Tundra, der mit Gräsern und Flechten bewachsenen Berghänge, die sich bis auf 4.100 Meter hinaufziehen. Viele der 14.000er sind deshalb bequeme Wanderberge.

„Pikes Peak or Bust“ – „Pikes Peak oder kaputtgehen“ – lautete einst das Motto der Pioniere, die den Westen Amerikas besiedelten. Die Flüsse und Bäche rund um den von weither sichtbaren Granitberg versprachen schnellen Reichtum in Form von Gold, das bis heute von zahllosen Hobbyschürfern aus dem Sand gewaschen wird.

„Pikes Peak or Bust?“ – ganz so dramatisch stellt sich die Besteigung des Gipfels für den geübten Wanderer nicht dar. Ein 1921 fertiggestellter Wanderweg führt von Manitou Springs zum Gipfel. Er heißt Barr Trail im Gedenken an Fred Barr, der sein ganzes Leben damit verbrachte, Hochgebirgsrouten einzurichten. Dank diesem Weg zieht der Pikes Peak Jahr für Jahr Tausende von Bergbegeisterten aber auch Freunde von Gebirgsläufen an. Der Pfad von Manitou Springs über das Barr Camp hinauf zum Gipfel ist für sie ein willkommenes Trainingsgelände. Jedes Jahr im August wird es dann ernst. Der Pikes-Peak-Marathon vom Tal auf den Gipfel und zurück gilt als einer der härtesten Hochgebirgsläufe weltweit.

Nicht einmal eine längere Akklimatisierung ist hier im Südwesten der USA von Nöten. Wer durch Colorado, New Mexiko, Arizona, Wyoming oder Utah reist, übernachtet nur selten unterhalb von 1.700 Metern. Selbst die nur 70 Meilen vom Pikes Peak entfernte Hauptstadt von Colorado, Denver, liegt auf über 1600 Meter. „Mile-High“ wirbt die Stadt, die ihre Existenz keinem anderen als dem Pikes Peak und seinen Goldminen zu verdanken hat, deshalb stolz.

Etwas von jenem Pioniergeist haben sich die amerikanischen Bergwanderer bewahrt. Der gemütlich eingerichtete Aufenthaltsraum ist der einzige Luxus in der 1920 errichten Hütte im Barr Camp. Es gibt keine Decken und keine Kissen. Wer hier übernachten will muss seinen Schlafsack selbst hinaufschleppen. Das Abendessen fällt weit einfacher aus als in den zu Berghotels avancierten Alpenhütten. Und wer keinen Wasserfilter dabei hat, um das Wasser am vorbeifließenden Gebirgsbach trinkbar zu machen, der muss die leeren Flaschen und Dosen der bei Teresa und Neal erstandenen Getränke im Rucksack verstauen, um sie im Tal zu entsorgen.

Der Stimmung auf der Hütte tut dies keinen Abbruch. Überall finden sich kleine Gruppen zusammen. Schnell ist man beim Vornamen, und erzählt sich Geschichten, die das Wandern schrieb. Bis dann um 21 Uhr die beiden Hüttenwirte ohne Widerrede zu dulden auf Hüttenruhe drängen. Am nächsten Morgen geht es früh los. Die meisten Wanderer verzichten auf das Frühstück um 7 Uhr. Auch wir sind um sechs Uhr bereit. Für den frühen Nachmittag sind Gewitter angekündigt. Und die sind in den Rocky Mountains heftig und formen sich innerhalb kürzester Zeit.

Gemächlich geht es hinauf zur Baumgrenze. Der Gipfel liegt vor uns. Orange leuchten die Felsen im Licht der aufgehenden Sonne. Die Luft wird dünner, der Weg steiniger und steiler. Bei jeder Pause gesellen sich Streifenhörnchen zu uns. Sie hoffen, dass etwas zu Essen abfällt. Auf den Felsen sitzen Murmeltiere. Neugierig beobachten sie uns. Ein Pfiff und sie verschwinden, um kurz darauf wieder aufzutauchen.

„16 golden stairs“ – „16 goldene Treppen“ heißt es endlich auf einem Schild. Der Gipfel liegt ganz nahe über uns. Doch wer wie wir anfängt, die steinigen Absätze im Weg zu zählen, sieht sich bald schon enttäuscht. Denn der Name bezieht sich nicht auf die Stufen sondern auf die Serpentinen, die noch vor uns liegen. So brauchen wir weitere 20 Minuten bis wir endlich oben sind.

Wir setzen uns auf einen Fels und genießen bei einem Schluck Selbstgefiltertem und einem Müsliriegel den Blick von unserem ersten Fourteener. Hinter uns liegen 12,6 Meilen (19,3 Kilometer) und 7.510 Fuß (2.289 Meter) Aufstieg in zwei Tagen. Es hat sich gelohnt: Auf der einen Seite erstreckt sich die Ebene bis zum Horizont, auf der anderen die Rockys, soweit das Auge reicht.

Der Rest ist schnell erzählt. Denn wer hat es erfunden? Nein, nicht das Bergwandern – das vermutlich auch – sondern die Zahnradbahn? Richtig. Die Schweizer. Sie haben auch den Zug gebaut, der den Gipfel des Pikes Peak mit dem Tal verbindet. In nur 100 Minuten sind wir zurück in Manitou Springs.

Was bisher geschah: